Orientierungssinn

[120] Orientierungssinn, die den Naturmenschen und Tieren beiwohnende Fähigkeit, sich in weiten Gebieten zurechtzufinden und selbst nach längern Zwischenräumen (bei Wandervögeln) die alten Futter- und Nistplätze wiederzufinden. Besonders merkwürdig ist die Entwickelung dieser Fähigkeit bei niedern Tieren, wie den Insekten, die in geraden Linien zu ihrem Neste zurückfliegen, so daß man in Amerika für den direkten Weg, die sogen. Luftlinie, den Ausdruck Bienenlinie gebraucht, weil die Indianer honigtragende Bienen fangen und fliegen lassen, um von ihnen nach ihrem Neste geführt zu werden. Lubbock, Bethe u.a. haben den O. der Insekten experimentell geprüft, und der erstere fand, daß gezeichnete Mauerbienen, die man in einer Schachtel von ihrem Neste fortführte, noch in einem erheblichen Prozentsatze zu ihrem Neste zurückkehrten, selbst wenn man sie in Entfernung mehrerer Kilometer von demselben fliegen ließ (22 Proz. bei 3 km) und gleichviel, od es im offenen Feld oder Walde geschah. Sehr entwickelt ist dieser O. bei Vögeln, wo man ihn sogar praktisch verwertet, z. B. bei der Taubenpost. Man nimmt an, daß die Schärfung einzelner Sinne (z. B. des Auges für Terrainverhältnisse bei fliegenden Tieren, welche die Gegend aus der Vogelperspektive überblicken) dabei die Hauptrolle spielt; aber ein sicherer Einblick in den Mechanismus dieser Erscheinungen ist schwierig und war selbst durch das Studium des Naturmenschen, der sich eines ähnlichen Orientierungssinnes erfreut, bisher nicht zu gewinnen. Vgl. Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich (Leipz. 1885); Bethe im »Archiv für die gesamte Physiologie«, Bd. 70, 1898, und Artikel »Wanderung«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 120.
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