Erste Familie: Hörnchen (Sciurina)

[268] In der ersten Familie vereinigen wir die Hörnchen (Sciurina), weil wir in ihnen die muntersten und klügsten, also edelsten Nager zu erkennen glauben. Nach Ansicht einzelner Forscher gelten sie gleichzeitig als Urbilder einer Unterordnung, der Eichhornnager (Sciurida), in welche man noch die Bilche, Biber und zwei außereuropäische Nagergruppen aufgenommen hat. Die Hörnchenfamilie zerfällt in zwei größere Unterabtheilungen, welche wir als Eichhörnchen und Murmelthiere unterscheiden. Der Leib der Eichhörnchen im engeren Sinne (Campsiurina) ist gestreckt und trägt einen mehr oder weniger langen, oft zweizeilig behaarten Schwanz. Die Augen sind groß und hervorstehend, die Ohren bald klein, bald groß, bald dünn behaart, bald noch mit Pinseln versehen. Das vordere Beinpaar ist merklich kürzer als das hintere. Die Vorderpfoten haben vier Zehen und einen Daumstummel, die hinteren Pfoten fünf Zehen. Im Oberkiefer stehen fünf, [268] im Unterkiefer vier Backenzähne; unter ihnen ist der erste Oberkieferzahn der kleinste und einfachste; die vier folgenden sind ziemlich übereinstimmend gestaltet. Am Schädel fällt die breite, flache Stirn auf. Die Wirbelsäule besteht meistens aus 12 rippentragenden und 7 rippenlosen Wirbeln; außerdem finden sich 3 Kreuz- und 16 bis 25 Schwanzwirbel. Der Magen ist einfach, der Darm von sehr verschiedener Länge.

Die Hörnchen bewohnen mit Ausnahme von Neuholland die ganze Erde, gehen ziemlich weit nach Norden hinauf und finden sich im heißesten Süden, leben in der Tiefe wie in der Höhe, manche Arten ebensogut im Gebirge wie in der Ebene. Waldungen oder wenigstens Baumpflanzungen bilden ihre bevorzugten Aufenthaltsorte, und bei weitem die größere Anzahl führt ein echtes Baumleben, während einige in unterirdischen, selbstgegrabenen Bauen Herberge nehmen. Gewöhnlich lebt jedes Hörnchen für sich; doch halten sich unter Umständen größere und kleinere Gesellschaften oder wenigstens Paare längere Zeit zusammen, und einzelne Arten unternehmen, getrieben von Nahrungsmangel, Wanderungen, während derer sie sich zu ungeheueren, heerartigen Scharen vereinigen. Im Jahre 1749 hatte die Anpflanzung von Mais eine so außerordentliche Vermehrung des nordamerikanischen grauen und schwarzen Hörnchens bewirkt, daß die Regierung von Pennsylvanien sich genöthigt sah, ein Schußgeld von drei Pence für das Stück auszusetzen. In diesem Jahre allein wurden 1,280,000 Stück dieser Thiere abgeliefert. James Hall erzählt, daß sich im ganzen Westen Nordamerikas die Eichkätzchen binnen weniger Jahre oft ganz ungeheuer vermehren und dann nothwendigerweise auswandern müssen. Heuschreckenartigen Schwärmen vergleichbar, sammeln sich die Thiere im Spätjahre in größere und immer größer werdende Scharen und rücken, Felder und Gärten plündernd, Wälder und Haine verwüstend, in südöstlicher Richtung vor, über Gebirge und Flüsse setzend, verfolgt von einem ganzen Heere von Feinden, ohne daß eine wesentliche Abnahme der Schar bemerkbar würde.


Geripp des Eichhörnchens. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Eichhörnchens. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Füchse, Iltisse, Falken und Eulen wetteifern mit den Menschen, das wandernde Heer anzugreifen. Längs der Ufer der größeren Flüsse sammeln sich die Knaben und erschlagen zu Hunderten die Thiere, wenn sie vom jenseitigen Ufer herübergeschwommen kommen. Jeder Bauer ermordet so viele von ihnen, als er kann, und dennoch lichten sich ihre Reihen nicht. Beim Beginne ihrer Wanderung sind alle fett und glänzend; je weiter sie aber ziehen, umsomehr kommt das allgemeine Elend, welches solche Nagerheere betrifft, über sie: sie erkranken, magern ab und fallen hundertweise der Seuche zum Opfer. Die Natur selbst übernimmt die beste Verminderung der Thiere, der Mensch würde ihnen gegenüber geradezu ohnmächtig sein.

Alle Hörnchen bewegen sich lebhaft, schnell und behend, und zwar ebensowohl auf den Bäumen als auf dem Boden. Auf letzterem sind bloß die Flatterhörnchen fremd, besitzen dagegen die Fähigkeit, außerordentlich weite Sprünge auszuführen, wenn auch immer nur von oben nach unten. Die Mehrzahl läuft satzweise und tritt dabei mit ganzer Sohle auf. Fast alle klettern vorzüglich und springen über große Zwischenräume weg von einem Baume zum anderen. Beim Schlafen nehmen sie eine zusammengerollte Stellung an und suchen sich gern bequeme Lagerplätze aus, ruhen daher entweder in einem unterirdischen Baue oder in Baumhöhlen oder endlich in Nestern, welche sie sich theilweise vorgerichtet oder selbst erbaut haben. Die in kalten Ländern wohnenden wandern, wenn der Winter herannacht, oder fallen in einen unterbrochenen Winterschlaf und sammeln sich[269] deshalb größere oder kleinere Mengen von Vorräthen ein, zu denen sie im Nothfalle ihre Zuflucht nehmen. Ihre Stimme besteht in Pfeifen und einem eigenthümlichen, nicht zu beschreibenden Brummen, Knurren und Zischen. Die geistigen Fähigkeiten sind gering, für die Ordnung der Nager aber verhältnismäßig bedeutend. Unter ihren Sinnen dürften Gesicht, Gehör und Geruch am meisten ausgebildet sein; einzelne bekunden jedoch auch ein sehr feines Gefühl, wie sich namentlich bei Veränderung der Witterung offenbart. Sie sind aufmerksam und scheu oder furchtsam und flüchten bei der geringsten Gefahr, welche ihnen zu drohen scheint. Im ganzen ängstlich und feige, wehren sie sich doch nach Möglichkeit, wenn sie ergriffen werden, und können mit ihren scharfen Zähnen tiefe Verwundungen beibringen.

Die meisten Arten scheinen jährlich mehr als einmal Junge zu werfen. Um die Zeit der Paarung lebt oft ein Männchen längere Zeit mit dem Weibchen, hilft ihm wohl auch an dem Ausbaue der mehr oder weniger künstlichen Wohnung, in welcher es später seine Nachkommenschaft beherbergen will. Die Anzahl der Jungen eines Wurfes schwankt zwischen zwei und sieben. Die Kleinen kommen fast nackt und blind zur Welt und bedürfen deshalb eines warmen Lagers und sorgfältiger Pflege und Liebe von Seiten ihrer Mütter. Jung aus dem Neste genommene Eichhörnchen lassen sich ohne besondere Mühe zähmen, halten auch die Gefangenschaft lange Zeit ohne Beschwerde aus. Manche gewöhnen sich an ihre Pfleger und hängen mit einer gewissen Zärtlichkeit an ihnen; doch erreicht ihr Verstand selbst bei längerem Umgange mit dem Menschen keine besondere Ausbildung, und fast regelmäßig bricht im höherem Alter das trotzige und mürrische Wesen durch, welches vielen Nagern gemein zu sein scheint: sie werden böse und bissig, so gutmüthig und harmlos sie früher auch waren.

Alle Hörnchen fressen zwar mit Vorliebe und zeitweilig ausschließlich Pflanzenstoffe, verschmähen aber, wie so viele andere Nager, auch Fleischnahrung nicht, überfallen schwache Säugethiere, jagen eifrig Vögeln nach, plündern unbarmherzig deren Nester aus und morden, als ob sie Raubthiere wären. Ihrem gefräßigem Zahne fällt alles zum Opfer, was ihnen irgendwie genießbar erscheint. Auf Java besuchte Haßkarl Dörfer, in denen die zahlreichen Kokospalmen nie zu reifen Früchten kommen, weil auf den Palmen hausende Eichhörnchen stets die noch unentwickelten Früchte anbeißen und in ihrer Weiterentwickelung stören, wie sie auch später die reifenden Kokosnüsse anbohren, nicht allein um deren Mark zu fressen, sondern auch um die Höhlung der Nuß zu ihrem Neste zu verwenden.

Obgleich man das Fell mehrerer Eichhornarten als Pelzwerk verwerthet, hier und da das Fleisch genießt, kann doch dieser geringe Nutzen den Schaden, welchen die Hörnchen unseren Nutzpflanzen und den nützlichen Vögeln zufügen, nicht aufwiegen. Jene von Haßkarl erwähnten Dörfer auf Java verarmen dieser Thiere wegen und werden nach und nach verlassen, die Feldmarken ganzer Dorfschaften Nordamerikas erleiden die schwersten Einbußen durch die Eichhörnchen. Auch bei uns zu Lande schaden sie mehr, als sie nützen. Im großen, freien Walde mag man sie dulden, in Parkanlagen und Gärten wird man ihrem Wirken Einhalt thun müssen. Sie verwüsten mehr, als sie zu ihrer Sättigung bedürfen, und machen sich als Nestplünderer verhaßt, rechtfertigen also eine Verfolgung unsererseits selbst dann, wenn sie nicht in größeren Scharen auftreten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 268-270.
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