Lebensfähigkeit

[192] Lebensfähigkeit (Vitalität), die Fähigkeit neugeborener Kinder, das Leben nach der Geburt unabhängig von der Mutter fortzusetzen. Die L. kann dem Kinde entweder darum fehlen, weil es bei der Geburt noch nicht die erforderliche Reise erlangt hatte, od. darum, weil es durch besondere körperliche Mißbildung außer Stande ist, selbständig fortzuleben. In erster Beziehung nimmt man gewöhnlich an, daß ein Kind wenigstens 181 Tage nach der Conception im Mutterleibe zugebracht haben müsse, um die L. erlangen zu können; manche Ärzte dehnen dies sogar bis zum 210. Tage der Schwangerschaft od. den Ablauf des 7. Monates aus. Zu den Mißbildungen, welche die L. ausschließen, gehören das Fehlen von wesentlichen Bestandtheilen des Kopfes, z.B. des Gehirns, ferner sehr große Wasserköpfe, Hirnbrüche mit hervorhängendem Sacke, bedeutende Spaltungen der Wirbelsäule, der Brust- u. Bauchwand, Mangel der Nieren od. der Harnleiter u. dgl. Die Frage der L. ist bes. deshalb von Wichtigkeit geworden, weil man sowohl im Civilrecht die Rechtsfähigkeit eines Kindes u. daher auch z.B. die Fähigkeit, Erbe zu werden, erst von der Erlangung der L. datiren zu dürfen glaubte, als auch im Criminalrecht es für ein Erforderniß des Thatbestandes der Tödtung u. insbesondere des Kindesmordes (s.d. c) erachtete, daß das getödtete Kind nicht blos ein lebendes, sondern auch ein lebensfähiges gewesen sein müsse, u. neuere Strafgesetzgebungen lassen die Strafe des Kindesmords um die Hälfte herabsinken, wenn die L. des getödteten Kindes mangelte od. wenigstens zweifelhaft erscheint.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 192.
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