Lebensfähigkeit

[285] Lebensfähigkeit (Vitalität), im ärztlichen Sinne derjenige Zustand eines neugebornen Kindes, in dem es seiner Entwickelungsstufe nach, d.h. nach der Bildung seiner Organe, befähigt ist, fortzuleben. Eine fünfmonatige Frucht, sie mag noch so wohlgebildet sein, ist nicht lebensfähig, und eine Frucht von zehn Monaten kann nicht fortleben, wenn eins oder mehrere der zum Leben wichtigsten Organe so verbildet sind, daß deren notwendige Verrichtungen nicht von statten gehen können. Ein kurzes Leben von Minuten oder Stunden kommt nicht in Betracht. In Beziehung auf die Frage, ob gewisse angeborne Mißbildungen, die durch die Kunst möglicherweise beseitigt werden können, den Begriff der L. ausschließen oder nicht, gibt es verschiedene Ansichten. Nach Casper schließen Mißbildungen, wie z. B. der an geborne häutige Verschluß des Mastdarms oder der Harnröhre, die ohne Kunsthilfe zum Tod führen, auch den Begriff der L. aus, denn die Annahme der L. einer auf diese Weise mißgebildeten Frucht würde die Folgerung einer verschiedenen L. der Kinder der Armen und Reichen, der Stadt- und Landbewohner zulassen. Angeborne Bildungsfehler, die imstande sind, das Fortleben unmöglich zu machen, sind im ganzen selten und dann in der Regel so sehr in die Sinne fallend, daß über ihre Bedeutsamkeit in der Regel kein Zweifel obwalten kann. Weniger leicht und oft erst nach einigen Tagen machen sich innere Mißbildungen bemerkbar, wie z. B. Verschließung der Speiseröhre, Verschluß des Afters und der Harnröhre, Zwerchfellbruch, bei dem die Eingeweide des Unterleibes in die Brusthöhle gedrungen sind, u. dgl. – Die L. war früher in mancher Beziehung Voraussetzung der Rechtsfähigkeit (s. d.), heute ist sie das, mit Ausnahme vom Code civil, dem italienischen und einigen schweizerischen Rechten, weder in zivil-noch in strafrechtlicher Beziehung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 285.
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