Mißbildung

[897] Mißbildung (Vitium primae formationis), jede Abweichung von dem normalen Entwickelungsgang eines Keims zum reisen Individuum. Im Tierreich nehmen die Mißbildungen an Häufigkeit und an Mannigfaltigkeit zu mit der Kompliziertheit des Entwickelungsvorganges. Am besten erforscht ist die Pathologie der Entwickelungsgeschichte bei den höhern Säugetieren und besonders beim Menschen. Das Produkt einer M. ist die Mißgeburt (monstrum, monstrositas, griech. teras, daher die Lehre von den Mißgeburten, Teratologie). Wie am Keim der Embryo von den außer ihm liegenden Umhüllungs- und Ernährungsapparaten und an dem Ernährungsorgan ein embryonaler von dem mütterlichen Anteil zu unterscheiden ist, so lassen sich die Monstra einteilen in solche, die durch Bildungsanomalien am Embryo selbst, in solche, die durch Erkrankungen der Eihäute und des embryonalen Fruchthofs, und in solche, die durch Fehlentwickelungen am mütterlichen Teil der Placenta entstanden sind. Die beiden letzten Kategorien (Molen) umfassen die höchsten Grade der Mißgestaltungen und entstehen in sehr frühen Perioden nach der Befruchtung. Die Mißbildungen des Embryos selbst zerfallen in Doppelmißbildungen und einfache Mißbildungen. Die Doppelmonstra gehen nach Annahme mancher Autoren hervor durch Spaltung eines ursprünglich einfachen Keims, nach Auffassung andrer durch Verwachsung einer ursprünglich doppelten (oder mehrfachen) Keimanlage. Am häufigsten liegen die Achsen beider Embryos parallel, und es besteht eine Verschmelzung entweder der Köpfe (Janusbildungen), oder der Brustkasten (Thorako- oder Sternopagen), oder des Bauches (Gastropagen). Die Achsen beider Körper können aber auch in einer Linie liegen, oder sie bilden (freilich höchst selten) einen Winkel oder kreuzen sich. Die nicht verwachsenen Teile, in den meisten Fällen die Extremitäten, sind sofort als doppelt vorhanden erkennbar; an den Stellen der Verschmelzung ist oft am Skelett die zwiefache Anlage nachzuweisen, so daß die Einfachheit nur eine scheinbare, durch die Formen der Weichteile bedingte war. Die meisten Doppelmonstra sind nicht lebensfähig, viele sterben während der Geburt, die äußerst schwierig und gefahrvoll ist, selten ist die Verwachsung so auf äußere, nicht lebenswichtige Organe beschränkt, daß die Individuen nebeneinander bestehen können. Die bekanntesten Beispiele sind die siamesischen Zwillinge und die zweiköpfige Nachtigall. Die einfachen Monstra lassen sich einteilen in Monstra per excessum und M. per defectum; bei den ersten sind die Teile quantitativ oder der Zahl nach größer, als sie sein sollten, bei den andern, viel häufigern sind sie kleiner oder fehlen ganz. Bei Hemmungsbildungen finden sich die Organe vor, aber in einer Gestalt, die in einer weit frühern Periode ihrer Entwickelung die normale ist. Neuere Autoren suchen alle Mißbildungen auf Hemmungen in der Entwickelung zurückzuführen, namentlich auch diejenigen, die früher als dritte Hauptgruppe, als Monstra per fabricam alienam, ausgeführt wurden. Diese Frage ist noch nicht abgeschlossen, jedenfalls aber für eine Reihe von Verdoppelungen einzelner Organe (Uterus und Scheide) oder Organteile (Herzklappen, Iris oder Regenbogenhaut) erwiesen. Alle Beschreibungen und Abbildungen von wunderbaren Mißgeburten (per fabricam alienam) mit Tierköpfen od. dgl., an denen die Teratologie der frühern Jahrhunderte reich ist, sind als Phantasiegespinste entlarvt worden. Man leitet die Mißbildungen aus Erkrankungen des Keims ab, oder betrachtet sie als Rückschlagbildungen auf frühere Stammformen des Menschengeschlechts. Zurzeit ist den Anhängern der Rückschlagtheorie noch an keiner Stelle der unwiderlegbare Nachweis gelungen, während die Deutung der Mißbildungen als pathologischer Abweichungen vom physiologischen Bildungsgesetz für die Mehrzahl der bekanntern Formen schlagend dargelegt werden kann. Keimerkrankungen können durch Stoß, Fall oder Schlag auf den Fruchthalter einer Schwangern entstehen, und die [897] Disposition zu fehlerhaften Entwickelungen ist oftmals erblich. Alle im Volk verbreiteten Legenden über den Einfluß psychischer Affekte der Schwangern auf die Kindesentwickelung, namentlich das Versehen, gehören in das Gebiet der Fabeln. Vgl. Bischof, Entwickelungsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Mißbildungen (in R. Wagners »Handwörterbuch der Physiologie«, Bd. 1, Braunschw. 1842); Förster, Die Mißbildungen des Menschen (Jena 1861); Panum, Untersuchungen über die Entstehung der Mißbildungen zunächst in den Eiern der Vögel (Berl. 1860) und in Virchows »Archiv«, Bd. 72; Gurlt, Über tierische Mißgeburten (Berl. 1877); Dareste, Recherches sur la production artificielle des monstruosités (Par. 1877); Ahlfeld, Die Mißbildungen des Menschen (Leipz. 1880–82, mit Atlas); Gerlach, Die Entstehungsweise der Doppelmißbildungen bei den höhern Wirbeltieren (Stuttg. 1882); Klaußner, Über M. der menschlichen Gliedmaßen (Wiesbad. 1900); Winckel, Über die M. von ektopisch entwickelten Früchten (das. 1902); Schwalbe, Die Morphologie der M. (Jena 1906 f.); Taruffi, Storia della teratologia (Bologna 1881–96, 8 Bde.).

[Mißbildungen im Pflanzenreich.] In der Botanik heißen Mißbildungen alle Formabweichungen der Organe einer Pflanze von der der Spezies eigentümlichen Erscheinung. Es ist, zumal bei Kulturpflanzen, oft schwer, eine Grenze zwischen Mißbildungen und Abarten (s. Art) zu ziehen, weil derartige Abweichungen bisweilen Zweck der Kultur und durch dieselbe erblich gemacht worden sind (rübenförmig verdickte Wurzeln, Fehlschlagen der Blüten des Blumenkohls, gefüllte Blumen etc.). Das Studium der Mißbildungen ist sowohl für die theoretische Erkenntnis der Wachstumsgesetze der Organe als auch für die praktischen Zwecke des Pflanzenzüchters von großer Bedeutung. Die Mißbildungen bestehen entweder in dem Ersatz eines normal zu erwartenden Organs durch ein andres (Metamorphie), indem besonders in den Blüten bestimmte Blattgebilde auf eine vorhergehende Ausbildungsform zurücksinken oder auf eine spätere vorschreiten. Letzteres geschieht z. B. bei der Umwandlung der Blumenblätter in Staubgefäße (Staminodie) bei Capsella bursa pastoris oder bei der Umwandlung von Blumenblättern oder Staubgefäßen zu Pistillen (Pistillodie). Das Zurücksinken auf vorhergehende Entwickelungsstufen ist der häufigere Fall und wird rückschreitende Metamorphose (anamorphosis) genannt; zu ihr gehören: die Umbildungen der Karpelle in Staubgefäße sowie die gefüllten Blüten (s. Blüte, S. 88), ferner die sogen. Vergrünung der Blüten, d. h. Umwandlung von Blumenblättern, Staub- oder Fruchtblättern in grüne Laubblätter (Antholyse oder Phyllo die), die Umwandlung ganzer Blüten in Laubknospen (Chloranthie) und endlich die Erscheinungen, daß die Achse einer Blüte am Ende sich wieder verlängert und in einen Laubsproß auswächst (Sprossung, prolificatio), z. B. bei Rosen, und daß der Blütenstand dieselbe Veränderung zeigt (sogen. proliferierende Blütenstände). Oder die Mißbildungen bestehen in einer Veränderung der relativen Gestaltsverhältnisse innerhalb ein und desselben Blattkreises einer Blüte, indem z. B. unregelmäßige Blüten durch Gleichwerden der Blumenblätter zu regelmäßigen werden (Pelorien). Viele Monstrositäten sind auf Abweichungen von den normalen Zahlenverhältnissen der Teile zurückzuführen. Dahin rechnen wir die meist auf Kosten der Blütenbildung geschehende abnorme Vermehrung der Blattorgane (Laubsucht, Phyllomanie, Pleiophyllie, Polyphyllie) oder Blattquirle (Pleiotaxie), die Vervielfältigung blättertragender Zweige (Astwucherung, polycladia), wozu auch die Hexenbesen (s. d.) gehören. In den gefüllten Blüten begegnen wir ebenfalls einer Vermehrung der normalen Anzahl der Blattgebilde. Auch die vierblätterigen Kleeblätter sind hier zu nennen. Abweichungen können auch durch Stillstand der Entwickelung (Stasimorphie) bedingt werden, indem z. B. bei manchen Koniferen die in der Jugend gebildeten Blattformen Bestand haben. Die abnorme Verminderung der Teile bezeichnet man als Meiophyllie (Verringerung der Blattzahl), Meiotaxie (Unterdrückung von Blattquirlen) oder als Abortus (d. h. völlige Unterdrückung). Eine andre Klasse von Mißbildungen besteht in abnormen Verwachsungen und Trennungen. Erstere zeigen sich nicht selten an Blüten (Synanthie) und an Früchten (Synkarpie), vielfach auch an Stämmen, Ästen und Wurzeln der Bäume. Änderungen in der Stellung der Organe, z. B. das Auftreten von Knospen an Früchten, von Blüten innerhalb des Ovars u. a., fallen unter den Begriff der Heterotaxie. Umwandlungen der Geschlechtsorgane, z. B. das Auftreten weiblicher Blüten an männlichen Infloreszenzen normal zweihäusiger Pflanzen, wie Salix u. a., die Bildung männlich-weiblicher (androgyner) Zapfen bei Pinus, das Auftreten von Pollenzellen innerhalb von Samenknospen bei Passiflora, Rosa u. a., werden als Heterogamie, Mißbildungen, die auf Vergrößerung oder Verlängerung von Organen beruhen, als Hypertrophie, resp. die Verkleinerung als Atrophie bezeichnet. Monströsen Trennungen begegnet man besonders an solchen Blütenteilen, die im normalen Zustand aus verwachsenen Gliedern bestehen, wie Blumenkronen und Pistille. Auf einer Vereinigung zahlreich angelegter Knospen während ihrer Bildung am Vegetationspunkt beruht die eigentümliche bandartige Verbreiterung (Fasziation) mancher Stengel und Blütenstände, wie z. B. bei dem Hahnenkamm (Celosia), bei dem die mißgebildete Form erblich geworden ist. Dasselbe gilt von der als Zwangsdrehungen (Strophomanie) bezeichneten Bildungsabweichung bei einigen Krautstämmen, bei denen unter Verwachsung der Blattbasen eine starke Torsion der Achse eintritt. Vgl. Moquin-Tandon, Pflanzenteratologie (deutsch von Schauer, Berl. 1842); Wigand, Grundlegung der Pflanzenteratologie (Marb. 1850); Cramer, Bildungsabweichungen bei einigen wichtigern Pflanzenfamilien (Zürich 1864); Frank, Krankheiten der Pflanzen (2. Aufl., Bresl. 1895, 3 Bde.); Masters, Pflanzenteratologie (deutsch von Dammer, Leipz. 1886); Penzig, Pflanzenteratologie, systematisch geordnet (Genua 1890–94, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 897-898.
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