Naturwissenschaft

[716] Naturwissenschaft, das Ganze aller Kenntnisse, welche die Natur, also die Mannigfaltigkeit der Naturdinge u. Naturereignisse, so wie deren Gesetze u. Ursachen zum Gegenstande haben. Theils die unermeßliche Menge u. Verschiedenartigkeit der Objecte u. Erscheinungen der Natur, theils die verschiedenen Methoden u. Zielpunkte ihrer Untersuchung haben längst zu der Unterscheidung einer Mehrheit von Naturwissenschaften geführt u. diese richtet sich zum größten Theile nach der Verbindung der Gegenstände der Untersuchung mit der Methode derselben. Die erste Aufgabe der N. ist die Naturgegenstände kennen zu lernen u. über ihre Mannigfaltigkeit eine geordnete Übersicht zu gewinnen; hierher gehören die beschreibenden (descriptiven) u. classificirenden N-en, welche man zum Theil früher häufig als Naturgeschichte bezeichnete, z.B. Botanik, Zoologie, Mineralogie, beschreibende Astronomie, Anatomie etc. Da aber die Naturgegenstände sich fortwährend verändern, so kommt es ferner darauf an, die Gesetze dieser Veränderungen kennen zu lernen. Dazu gehört Beobachtung des Verlaufs gleichartiger Erscheinungen, um durch Vergleichung derselben das Gemeinsame u. sich immer Wiederholende von dem Individuellen u. Wechselnden zu unterscheiden; ein Verfahren, welches durch absichtlich angestellte Versuche (Experimente), bei welchen man die Bedingungen eines Ereignisses absichtlich anordnet u. so sich das Mittel verschafft zu bestimmen, welchen Antheil jede der Bedingungen an der gesammten Erscheinung hat, unterstützt u. gesichert wird. Die Feststellung des Allgemeinen durch vergleichende Beobachtung des Einzelnen heißt Induction (s.d.); man nennt daher die N-en, welche u. insofern sie diese Methode anwenden, die inductiven. Zu ihnen gehören z.B. die Physik, die Chemie, dir Physiologie, die Geologie etc., insofern sie die thatsächlich vorliegende Regelmäßigkeit gewisser Gruppen von Phänomenen festzustellen suchen; vgl. Whewell, Geschichte der inductiven Wissenschaften, deutsch von Littrow, Stuttg. 1839–42, 3 Bde. Die Induction führt aber nur zu der [716] Erkenntniß des gleichartigen Verlaufs gewisser Phänomene, ohne die Regel u. das Gesetz desselben zu bestimmen. Die Bestimmung dieser Naturgesetze ist nun eine höhere Aufgabe der N., aber bis jetzt nur von einer einzigen Seite der Forschung zugänglich geworden, nämlich von der der quantitativen Verhältnisse, welche für alle Naturerscheinungen ein wesentlich bestimmendes Merkmal sind, u. die Theile der N., in denen es gelungen ist, für die Regel des Verlaufs der Phänomene einen mathematisch bestimmten Ausdruck zu finden, nennt man die exacten N-en. Hierher gehören die mathematische Physik, die Mechanik, die Astronomie, während die durchgreifende Anwendung der Mathematik z.B. auf Chemie u. Physiologie noch nicht gelungen ist. Beobachtung, Experiment, Induction u. Rechnung sind daher die Hülfsmittel der N.; bei dem durchgreifenden Zusammenhang der Naturerscheinungen wirken übrigens die Fortschritte in dem einen Theile der Naturforschung auf andere Theile vielfach fördernd ein; die einzelnen N-en haben eine natürliche Richtung sich gegenseitig zu ergänzen u. ein zusammenhängendes Ganze der Erkenntniß zu erreichen, welches, indem es theils die Natur selbst als Ganzes auffaßt, theils über die Gesetze der Erscheinungen hinaus zu den letzten Ursachen derselben fortschreitet, in die Naturphilosophie (s.d.) überzugehen die Bestimmung hat. Das Interesse, welches sich an die N. knüpft, ist zwar an sich zunächst ein rein theoretisches; aber die praktischen Folgen, welche jeder wirkliche Fortschritt derselbenhat, sind von der größten Wichtigkeit, u. der Einfluß der N. auf Ackerbau, Gewerbe, Verkehr hat namentlich in den letzten 50 Jahren eine allgemeine, in den meisten Fällen überaus segensreiche Umgestaltung der Verhältnisse des äußeren Lebens bewirkt. Um dieser praktischen Anwendungen willen unterscheidet man die angewendeten N-en, z.B. die technische Chemie, von den reinen; wiewohl es auch eine rein theoretische Anwendung der Ergebnisse einer N zum Behufe der Aufklärung in einem andern Theile der N. gibt, wie z.B. die physiologische Chemie eine Anwendung der Chemie auf die Erklärung der Processe des animalischen Lebens ist.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 716-717.
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