[459] Pariser elektrische Schnellbahnen. Wie in allen anderen Weltstädten handelt es sich auch in Paris um die beiden Gattungen der von vornherein für den elektrischen Betrieb eingerichteten örtlich selbständigen Schnellbahnen und der als Bestandteile von Vollbahnen vom Dampfbetrieb zum elektrischen übergeführten Vorstadt- und Vorortlinien. Eine in keiner andern Großstadt anzutreffende Besonderheit des örtlich selbständigen Pariser Schnellbahnnetzes ist die, daß es in seiner räumlichen Ausdehnung streng an das städtische Weichbild mit seinen rd. 4 Mill. Insassen gebunden ist, d.h. daß die sämtlichen Linien innerhalb der Umwallung ceinture endigen, in der ausgesprochenen Absicht, die außerhalb im Seinedepartement und darüber hinaus gelegenen Vorstädte und Vororte von dem Ortsschnellverkehr vollkommen auszuschließen, um auf diese Weise einer Abwanderung der Steuerzahler vorzubeugen.
1. Selbständige Schnellbahnen.
a) Allgemeines. Die Geschichte der Ortsschnellbahnen beginnt im Jahre 1871; die zu jener Zeit durchgeführte erste Londoner Untergrundbahn gab dem Seine-Generalrat Veranlassung zur Ausarbeitung eines Schnellverkehrsentwurfs, der bereits die Grundzüge der heutigen Schnellbahnen erkennen läßt. Aber weder dieser Vorschlag noch auch spätere, vom Stadtbauamt, den Großbahnen oder aus privaten Kreisen herrührende Entwürfe wurden von der Stadt oder dem Staat gutgeheißen, deren Auffassungen bereits über die allgemeinen Gesichtspunkte auseinandergingen. Während der Staat die Schnellbahnen als Verkehrslinien von allgemeiner Bedeutung zur Verbindung der großen Bahnhöfe ausgebaut zu sehen wünschte, faßte die Stadt sie als von den Einführungsbahnhöfen losgelöste reine Ortsbahnen auf. Mit dem Auftauchen des Gedankens an die Weltausstellung von 1900 fand das unfruchtbare Planen ein Ende, indem die Regierung der Stadt in Anbetracht der von ihr im Interesse der Ausstellung geleisteten Dienste am 22. November 1895 bestimmte örtliche Linien zu eigener Ausführung freigab. Das vom Stadtbauamt nach dem Magistratsprogramm von 1896 entworfene elektrische Schmalspurnetz war als gemischtwirtschaftliches Unternehmen in der Weise gedacht, daß der von der Stadt als städtisches Eigentum herzustellende Rohbau zur Ausrüstung und Betriebsführung an einen Unternehmer verpachtet wurde. Ein dementsprechend aufgestellter Entwurf wurde am 9. Juli 1897 zusammen mit einem Betriebsabkommen vom Stadtrat und im März 1898 nach behördlicher[459] Begutachtung von der Deputiertenkammer und dem Senat genehmigt. Nachdem den Linien durch Ges. vom 30. März 1898 die »öffentliche Bedeutung« utilité publique beigelegt war, folgte am 4. April desselben Jahres die gesetzliche Ermächtigung zur Aufnahme einer städtischen Anleihe von 165 Mill. Fr. für das Unternehmen. Das Ges. vom 30. März 1898 schrieb statt der Schmalspur, mit der sich die Stadt von den Großbahnen und der Ringbahn unabhängig zu machen wünschte, die Vollspur vor, um unter gewissen Umständen die Möglichkeit einer späteren Verbindung mit den Vollbahnen zu wahren. Insofern jedoch wurde den stadtseitigen Wünschen Rechnung getragen, als für die Wagenbreite einschließlich aller Ausladungen ein Maß von 2∙4 m vorgeschrieben wurde, so daß es wohl möglich war, die Schnellbahnwagen auf die Vollbahnen überzuführen, jedoch nicht umgekehrt. Ferner war bestimmt, daß die Schnellbahnen das weitere Vordringen der Vollbahnen und ihre Vereinigung im Stadtgebiet nicht hindern dürften. Die Dauer des Pachtverhältnisses mit dem Betriebsunternehmer, der die stadtseitig herzustellenden Tunnel, Einschnitte und Viadukte mit dem notwendigen Zubehör, nämlich dem Oberbau und den gesamten Betriebsausrüstungen zu versehen, die Kraftwerke und Betriebsstätten beizustellen und die Betriebsmittel vorzuhalten hatte, wurde auf 35 Jahre bemessen. Die Genehmigung wurde von der Stadt an die mit den bekannten Creusotwerken arbeitende Förderungsgesellschaft (Société générale de Traction) übertragen, die sich verpflichtete, innerhalb 6 Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes, das dem Unternehmen die öffentliche Bedeutung zuspricht, eine Betriebsgesellschaft mit mindestens 25 Mill. Fr. Stammkapital zu begründen. So entstand die heutige »Pariser Stadtbahngesellschaft« (Compagnie du Métropolitain de Paris), die sich auch zur Übernahme aller von den öffentlichen Gewalten fernerhin etwa noch zu erteilenden Genehmigungen bereit erklärte.
Der erste Plan umfaßte 6 Linien von 65 km Gesamtausdehnung. Das Netz war in 3 Abschnitte zerlegt, in denen der Lauf der Genehmigung mit Ablieferung der jeweilig letzten Linie an den Unternehmer in Kraft trat. In der Reihenfolge der Ablieferung fallen die Abschnitte nach Ablauf der bezeichneten Frist von 35 Jahren der Stadt anheim; der Unternehmer behält indessen den Betrieb des Gesamtnetzes bis zum Heimfall des letzten Abschnitts; für die bereits anheimgefallenen Teile wird ihm dafür eine jahreskilometrische Vergütung von 45.000 Fr. gezahlt. Die Stadt hat sich ferner ein Rückkaufsrecht vorbehalten, das aber frühestens 7 Jahre nach Ablieferung des zuletzt gebauten Abschnitts ausgeübt werden darf.
In der Genehmigungsurkunde sind die Tarife einheitlich auf 12 Pf. (15 cts.) in der II. und auf 20 Pf. (25 cts.) in der I. Klasse für durchgehende oder gebrochene Fahrt zwischen beliebigen Punkten des Netzes festgesetzt. Bis 9 Uhr vormittags werden Rückfahrkarten II. Kl. zum Preis von 16 Pf. (20 cts.) ausgegeben, die für den Rest des Tages gültig bleiben.
Ferner ist festgesetzt, daß der Unternehmer von jeder ausgegebenen Fahrkarte eine Abgabe an die Stadt zu zahlen hat, die dieser die Mittel zur Verzinsung und Tilgung der für den Bahnrohbau aufgewendeten Beträge liefert. Die Abgabe beträgt bis zu 140 Mill. Fahrgästen 4 Pf. (5 cts.) für die Fahrkarte II. Kl. und 8 Pf. (10 cts.) für die Fahrkarte I. Kl. Bis 190 Mill. Reisenden steigt die Abgabe staffelweise auf 4∙4 und 8∙4 Pf.
Die erste Teilstrecke des Stadtbahnnetzes wurde im Jahre der Weltausstellung 1900 eröffnet; Ende 1913 befanden sich zu vgl. den Lageplan, Taf. V 8 Linien im Betrieb, nämlich:
Im Lauf der Zeit hat die Stadtgemeinde an dem Grundsatz der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung nicht mehr unbedingt festgehalten und in der Nordsüdbahn auch ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen zugelassen, unter der Bedingung jedoch, daß es sich tarifarisch dem Stadtbahnnetz vollkommen anzupassen habe. Für die Fahrgäste bilden die beiden Unternehmungen ein ununterscheidbares Ganzes, so daß sie ohne Zuzahlung beliebig von einer Bahn zur andern übergehen können. Zwecks rechnerischen Ausgleichs hat die Nordsüdbahn jährliche Beträge von 150.000 Fr. an die Stadtbahngesellschaft und von 50.000 Fr. an die Stadt zu zahlen, die als Gegenwerte für die Ausdehnung der Rückfahrkarten auf die Nordsüdbahn anzusehen sind. Die Nordsüdbahn hat von jeder verkauften Fahrkarte eine[460] Abgabe an die Stadt zu entrichten, die bis zu 65 Mill. Reisenden jährlich 1 cts., darüber hinaus für jede Fahrkarte zu 15 und 20 cts. und für jede Fahrkarte von 25 cts. 21/2 cts. beträgt.
Die Genehmigung der Nordsüdbahn läuft bis zum 30. Juni 1950. Die Stadt hat das Recht, den Rohbau der Bahn oder das Unternehmen im ganzen Umfang jederzeit anzukaufen; im ersteren Fall wird der Gesellschaft der Betrieb bis zum Ablauf der Genehmigung überlassen.
Die Anfänge der Nordsüdbahn gehen bis 1899 zurück. Am 28. Dezember 1901 wurde nach langen Unterhandlungen an Berlier und Janicot die städtische Genehmigung erteilt; durch Ges. vom 3. April/19. Juli 1905 wurde der Linie die öffentliche Bedeutung zugesprochen. Das Unternehmen besteht aus den Linien vom Versailler Tor nach dem Jules Joffrin-Platz, 10∙8 km, und der selbständig betriebenen Seitenlinie vom Bahnhof St. Lazare nach dem St. Ouen-Tor, 2∙65 km, mit Abzweigung nach dem Tor von Clichy (zu vgl. den Lageplan, Taf. V). Die Inbetriebnahme des ersten wichtigsten Abschnitts (8 km vom Versailler Tor nach Notre Dame de Lorette) erfolgte am 5. November 1910.
b) Technische Einzelheiten. Das wesentliche Kennzeichen des überaus dicht geflochtenen Netzes der selbständigen Schnellbahnen ist seine Zusammensetzung aus selbständigen Einzellinien, die mit Pendelzügen betrieben werden. Linienverzweigungen kommen bei der im allgemeinen mäßigen Längenausdehnung der einzelnen Linien nur in wenigen Fällen vor; wo sie vorkommen, sind sie hinsichtlich der Gleisführungen nach den modernsten Grundsätzen durchgebildet; Beispiel: Station La Fourche der Nordsüdbahn. Lediglich zu gelegentlicher Überführung von Zügen im inneren Dienst sind die einzelnen Linien miteinander verbunden[461] (Abb. 429). Der Plan, die Vorstädte und Vororte vom Verkehr des Netzes gänzlich auszuschließen, kommt in der fast allgemein durchgeführten Kehrschleifenbildung an den Linienenden zum Ausdruck.
Die Fahrgäste sind nach dieser Sachlage in weitestem Umfang auf Zugwechsel angewiesen, der an den Kreuzungspunkten der Linien im Übergang von Station zu Station erfolgt. Dabei ist das Publikum auf die Zurücklegung oft längerer Verbindungsgänge, ausgiebige Benutzung von Treppen angewiesen (Abb. 430, 431 u. 432). Zur Erleichterung des Umsteigens ist bei tiefer Stationslage auch in Paris von Aufzügen und Fahrtreppen Gebrauch gemacht; die in Paris angewendete Hocquartsche Fahrtreppenform wird von der Londoner Otisform hinsichtlich der Zweckmäßigkeit bei weitem übertroffen.[462]
In betreff der technischen Grundlagen für die Bemessung und Anordnung der Tunnel- und Stationsräume sowie der Betriebsmittel herrscht im Gesamtnetz der Stadt- und Nordsüdbahn fast vollkommene Einheitlichkeit. Die Ausführungsweise der Bauten gestaltete sich nach den örtlichen Verhältnissen sehr verschieden. In dem weithin anstehenden weichen Kalksteingebirge konnten die Tunnel in einfachster Weise unterirdisch vorgetrieben oder im Tagebau hergestellt werden. Die Abb. 433 und 434 stellen die vielfach angewendete gewölbte Bauweise dar. Wo die Tunnel dicht unter der Erdoberfläche liegen, gelangten flache Decken aus Eisenträgern mit Wölbkappen zur Anwendung. Streckenweise insbesondere auf der Nordsüdbahn sind die Tunnel im Vollschildvortrieb als kreisförmige Eisenröhren ausgebildet oder im Firstenschildvortrieb aus Betonmauerwerk hergestellt worden. Auch gelangten in einzelnen Fällen unrunde Eisenröhren im Schutz gemauerten Deckengewölbes zur Ausführung (Abb. 435).
Die Seineunterfahrungen wurden in verschiedener Weise ausgebildet; z. T. sind sie als Eisenröhren im Schildvortrieb hergestellt (Abb. 436). Bei der Unterfahrung der Cité-Insel (Abb. 437) wurden fertige Tunnelabschnitte auf den Wasserläufen herangeflößt[463] und unter Anwendung des Druckluft-Gründungsverfahrens in fortlaufender Reihe versenkt. Ähnlich ist die in Abb. 438 dargestellte untere Seineunterfahrung der Linie 8 gebaut worden. Die seitlichen Fugen zwischen den einzelnen Tunnelstücken wurden gegen das Erdreich durch eingerammte Eisenröhren abgedichtet, unter deren Schutz die Ausbetonierung des Eisenwerks durchgehend vorgenommen werden konnte. Bei größerer Tiefenlage der Tunnel, wie im Fall der Abb. 437, sind auch die Aufzugs- und Treppenschächte unter Druckluft abgesenkt worden.
Auf der Südseite der Seine liegen weite Bahnabschnitte auf den als Katakomben bekannten alten Steinbrüchen, die vielfach Untermauerungen nötig machten (Beispiel: Abb. 439).
Abb. 440 zeigt die neuere Grundrißanordnung der Wagen.[464]
c) Wirtschaftliches. Das Erträgnis der Stadtbahn reicht aus, um nach mehr als 8%iger Verzinsung des von der Stadt aufgewendeten Kapitals aus den von der Gesellschaft zu zahlenden Abgaben auch noch das Kapital der Betriebsgesellschaft mit fast 7% durchschnittlich zu verzinsen. Das Erträgnis der Nordsüdbahn verzinst das Kapital der Gesellschaft einstweilen im Durchschnitt noch nicht mit 3%.
Die Hauptzahlen der Betriebsrechnung für das Jahr 1912 stellten sich wie folgt:
2. Elektrisierung der Vorortbahnen.
Die Elektrisierungsbestrebungen der Vollbahnen richten sich zunächst auf das Netz der westlichen Pariser Vorortbahnen, das vor einigen Jahren aus dem Besitz der Westbahn in den des Staates übergegangen ist. Die wichtigsten Linien gehen vom Bahnhof St. Lazare, ein Teil vom Montparnasse- und dem Invalidenbahnhof aus. Die Westbahn selbst hatte bereits im Jahre 1903 die Linie nach Versailles über Issy und Meudon-Val Fleury in den elektrischen Betrieb übergeführt.
Die zunächst zu elektrisierenden weiteren Linien des engeren Vorortgebiets sind die folgenden (Abb. 441):
a) Die Linie von St. Lazare nach Auteuil und zum Marsfeld; die rechtsuferige Strecke nach Versailles, nach Issy und St. Nom-la Bretèche; ferner nach St. Germain en Laye; endlich nach Mantes und Pontoise über Maisons-Lafitte und Argenteuil;
b) vom Invalidenbahnhof nach Versailles (linksuferige Strecke);
c) von Montparnasse nach Versailles (linkes Ufer); nach St. Cyr und Orsay (erster Abschnitt der Linie nach Chartres über Gallardon);
d) von St. Germain-Staatsbahn nach St. Germain-Außenring.
Die Linien der weiteren Vorortzone von Paris über Argenteuil und Poissy nach Mantes[465] und von Paris nach Pontoise sind in zweiter Linie für den elektrischen Betrieb in Aussicht genommen. Die in den Jahren 19101912 von der Staatsbahnverwaltung ausgearbeiteten Entwürfe für den elektrischen Betrieb sehen eine ausgedehnte Umgestaltung des Bahnhofs St. Lazare mit seinen Zufahrten vor.
Auf dem elektrisch betriebenen Netz wird ein Staffelbetrieb in folgender Weise durchgeführt:
1. Von St. Lazare gehen Züge bis zum Anfang der dritten Staffel (St. Cloud, Rueil, Maisons-Lafitte) auf etwa 15 km Entfernung ohne Aufenthalt durch und halten auf allen Bahnhöfen der dritten Staffel, die bis nach Versailles, St. Germain, St. Nom-la Bretèche u.s.w. reicht;
2. von St. Lazare gehen Züge bis zum Anfang der zweiten Staffel (Bois-Colombes, Becon-les-Bruyères) bis auf etwa 5 km Entfernung ohne Aufenthalt durch und bedienen alle Bahnhöfe der zweiten Staffel bis zum Anfang der dritten;
3. endlich werden alle Stationen der ersten Staffel bis zum Anfang der zweiten von besonderen Zügen bedient.
In derselben Weise werden die Fahrten vom Montparnasse- und vom Invalidenbahnhof nach Versailles gestaffelt.
Die Züge werden zusammengesetzt aus Triebwagen von einheitlicher Bauart mit 26 Plätzen I. und 74 Plätzen II. Kl., die Stehplätze eingeschlossen. Während eines großen Teiles des Tages genügt ein Betrieb mit Einzelwagen; bei stärkerem Verkehr werden 2 oder 4 Wagen mittels der Sprague-Thomson-Houston-Schaltung zu Zügen vereinigt. Die bereits eingehend erprobten [466] Triebwagen erster Lieferung (Abb. 442) sind ähnlich gebaut, aber erheblich größer als die Wagen der Stadtbahn und der Nordsüdbahn. Zum Betrieb wird niedrig gespannter Gleichstrom von 600700 Volt Spannung verwendet, der von Zuführungsschienen der in Abb. 443 angegebenen Art abgenommen wird.
Kemmann.
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