Ebenmaaß

[286] Ebenmaaß. (Schöne Künste)

Eine solche Uebereinstimmung der Theile in Ansehung der Grösse, die keinen derselben besonders, zum Nachtheil der andern oder des Ganzen, merkbar macht. Also hat ein Gegenstand sein gehöriges Ebenmaaß, wenn jeder Theil die ihm, nach seiner Verhältnis zum Ganzen, zukommende Grösse hat. Durch das Ebenmaaß werden einige Theile groß und andre klein, jeder nach seinem Rang in den Verhältnissen; durch dasselbe ist der Rumpf an dem menschlichen Körper sein größter und der Kopf sein kleinester Haupttheil. Die Würkung des Ebenmaasses auf unsre Vorstellung ist die Ruhe oder Befriedigung derselben, weil durch sie die mannigfaltigen Theile eines Gegenstandes ihr Gleichgewicht untereinander bekommen, daß der Gegenstand nicht einseitig, oder eintheilig, sondern mit allen seinen Theilen zugleich, als ein einziges Ding, oder ein wahres Ganzes erscheint, ohne welches Gleichgewicht kein Gegenstand schön seyn kann: deswegen das Ebenmaaß auch der Grund der Schönheit ist.

Das Ebenmaaß der Theile ist also eine allgemeine Eigenschaft aller Werke des Geschmaks, weil sie dadurch zu einem harmonischen Ganzen werden. Es erstrekt sich aber nicht nur auf die verhältnißmäßige Größe, sondern auch auf die Ausarbeitung der Theile. Wenn ein besondrer Theil eines Gemähldes fleißiger, als seine Stelle, oder seine Würkung zum Ganzen es erfodert, bearbeitet wäre, so würde dieses auch das Ebenmaaß stöhren. Denn jeder Theil muß in allen Absichten gerade so seyn, wie die Würkung des Ganzen es erfodert.

Diese Beobachtung des Ebenmaaßes ist die Würkung einer überaus scharfen Beurtheilungskraft, oder des feinesten Geschmaks. Es ist aber offenbar, daß nur die genaue und bestimmte Vorstellung des Ganzen, mit allen seinen Theilen dasselbe möglich macht. Wer nicht vermögend ist, das Ganze auf einen Blik richtig zu übersehen und genau zu fassen, der fühlt weder Ebenmaaß noch Abweichung davon. Um also diesen wichtigen Theil der Kunst zu besitzen, muß man sich unaufhörlich üben, die Fertigkeit zu erlangen, ein Ganzes richtig zu fassen. Der Mahler tritt währender Ausarbeitung sehr oft weit von seinem Gemählde weg, um es im Ganzen zu übersehen, und der Tonsetzer hört in einiger Entfernung die erste Aufführung seiner Arbeit an. Dem Redner und dem Dichter aber wird dieses bey einiger Größe am schweersten. Darum muß ein Dichter sich äusserst angelegen seyn lassen, sein Werk, eh' er die letzte Hand daran legt, nach allen einzeln Theilen im ganzen Plan zu übersehen. Nur der, welchem das ganze Werk so geläufig ist, als wenn er sich einen einzigen Gedanken vorstellte, ist fähig alle Theile in Absicht auf das Ebenmaaß zu beurtheilen.

Auch der Baumeister hat eine beträchtliche Zeit nöthig, sich den Plan eines grossen Gebäudes mit allen seinen Theilen so bekannt zu machen, daß er mit Leichtigkeit jeden Theil in der Vorstellung des Ganzen fühlt.

Es ist also eine für jeden Künstler zur Cultur des Genies sehr nützliche Uebung, sich aus vielen und mancherley Theilen zusammengesetzte Gegenstände im Ganzen so ofte vorzustellen, bis er es mit Leichtigkeit übersehen, und jedes einzele auf einmal bemerken kann. Nur die Genien der ersten Größe sind im Stand ganz grosse und aus sehr viel Theilen bestehende Gegenstände auf einmal zu übersehen, und es ist allemal, auch blos in Rüksicht auf diesen Theil der Kunst, ein schweeres Werk, in einer weitläuftigern Epopee das Ebenmaaß der Theile zu beobachten. [287] Aber die blos mechanische Fassung des Ganzen ist zur Erreichung des Ebenmaasses nicht hinlänglich; man muß dabey auch empfinden, von welcher Natur und von welcher Würkung das Werk im Ganzen seyn soll. Denn nur dadurch kann man fühlen, ob jeder Theil seine angemessene Würkung im Ganzen thut, und ob jeder in seiner besondern Natur mit dem Wesen des Allgemeinen übereinkommet.

Aus diesen Anmerkungen kann man den allgemeinen Schluß ziehen, daß ein ganz anderes Genie zu grossen und weitläuftigen, als zu kleinen Werken gehöre. Ein Tonsetzer kann einen Menuet oder ein Lied fürtreflich setzen, und ganz ungeschikt seyn, eine Ouverture, oder einen Chor zu machen. Ein Dichter kann der erste Odendichter und ein sehr schlechter epischer oder dramatischer Dichter seyn; und der Baumeister, der ein Wohnhaus auf das vollkommenste angeben kann, muß darum sich nicht einbilden, Talente genug zu haben, einen Pallast anzugeben. Die grossen Arbeiten in jeder Art sind nur für die größten Künstlergenien.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 286-288.
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