Pharsalia

[901] Pharsalia.

Da ich dieses Gedicht nie in der Absicht gelesen habe, um mir eine bestimmte Vorstellung von seiner Art und von seinem poetischen Charakter zu machen, so will ich, statt meiner Gedanken darüber, hier einen kleinen Aufsaz einrüken, den mir ein durch vielerley critische Arbeiten bekannter und verdienter Mann zugeschikt hat.

»Man hat diesem erzählenden Gedicht des Lucanus die Ehre einer Epopöe streitig gemacht. Es ist aber nicht darum historisch, weil die Zeitordnung darin nicht umgekehrt wird, welches auch in der Ilias nicht geschieht, und von Herodotus mehr, als in irgend einem Gedichte geschehen ist; noch darum, weil es auf keine absonderliche Sittenlehre gebaut ist; maaßen es, wenn dieses erfodert würde, den Jammer, den die innerliche Zwietracht mit sich führet, gewiß in so starkem Lichte zeiget, als immer die Ilias thut. Was obige Beschuldigung rechtfertiget, ist, daß es wenig Exempel in sich hat, wiewol sie nicht ganz fehlen, wo die Personen reden, ausgenommen in öffentlichen Versammlungen, und daß die Reden, anstatt aus dem besondern Charakter der Personen zu fließen, insgemein von allgemeinen Wahrheiten und Säzen hergenommen sind, und zu sehr nach dem Redner schmeken; wiewol sie sonst stark genug und der Römer sehr würdig sind. In der Epopöe müssen öffentliche Geschäfte und Reden selten vorkommen; hingegen die persönlichen Gesinnungen, die besondern Unterhandlungen und Berathschlagungen über die aus der Handlung unmittelbar entstehenden Vorfälle und Begebenheiten. Jenes kommt eigentlich der Historie zu; dieses ist der Dichtkunst eigen.

Unter die Nachtheile der Pharsalia rechne ich nicht, daß wir genau wissen, daß eine Menge Umstände zu den wahren, bekannten, nur erdichtet sind; denn die poetische Gewißheit wird vielmehr stärker, wenn sie mit bekannten Sachen untersezt wird. Und so bald der Poet sich eines historischen Grunds zu seiner Arbeit bemächtiget; so därf man keine andere, als die poetische Gewißheit von ihm fodern. In einem Gedichte, wo die Hauptpersonen noch so jüngst gelebt haben, daß wir selbst, oder unsre Aeltern sie gekannt haben, macht es Schwierigkeiten uns Ehrfurcht und Bewunderung für sie beyzubringen. Hundert Histörichen von kleinen menschlichen Schwachheiten, und von wirthschaftlichen Umständen, die wir selbst gesehen, oder von Augenzeugen gehört haben, sezen sie zu den gewöhnlichen Menschen herunter. Unser Poet hat durch die grossen Sachen, womit er den Leser unterhält, denjenigen, die nahe bey seinen Helden gelebt haben, nicht Weile gelassen, an das zu denken, was ihnen Kleines anhieng, und bey den späthern Leseren hat der Lauf der Jahre, das Andenken dieser Kleinigkeiten vertilget.«

Daß der Dichter der Pharsalia große poetische Talente gehabt, wird wol Niemand in Abrede seyn. Aber man sieht nicht selten bey ihm, daß Ueberlegung und Bemühung bisweilen die Stelle der Begeisterung vertreten; daß er, nicht aus überströhmender Empfindung, sondern, weil er es gesucht, und lange darauf gearbeitet hat, sich dem Großen und Erhabenen nähert.

Seit Kurzem hat unser Dichter in Frankreich verschiedene vorzügliche Verehrer gefunden, die durch einzele Schönheiten, die in Menge bey ihm angetroffen [901] werden, so eingenommen worden, daß wenig daran fehlet, daß sie ihm nicht die erste Stelle unter den Heldendichtern einräumen. Dieses war in der That von Leuthen, nach deren Geschmak die Henriade einen hohen Rang unter den Epopöen behauptet, zu erwarten.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 901-902.
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