Historie

[540] Historie. (Historisches Gemähld)

In dem weitläuftigsten Sinn bekommt jedes Gemählde den Namen des historischen Gemähldes, wenn handelnde Personen den Hauptinhalt desselben ausmachen. Es unterscheidet sich von dem Portrait, von der Landschaft, von dem Blumenstük und allen andern Gatttungen dadurch, daß es die Schilderung handelnder, oder auch nur in gewissen bestimmten Empfindungen begriffener Menschen zur Absicht hat. In so fern werden die Vorstellungen aus der Mythologie, das allegorische Gemähld, die Schlachten, die Gesellschaftsgemählde, wenn sie gleich aus Portraiten bestehen, ingleichem einzele Bilder, wo nur eine einzige Person in Handlung, oder in einer bestimmten Gemüthslage vorgestellt wird, wie eine bußfertige Magdalene und dergleichen, zu der historischen Classe gerechnet.

Diese Gattung unterscheidet sich von allen andern dadurch, daß sie denkende Wesen in Handlungen, in Leidenschaften und überhaupt in sittlichen oder leidenschaftlichen Umständen abbildet, in der Absicht uns sowol das äußerliche Betragen, als die Empfindungen der Seele dabey, lebhaft zu schildern. Denn dieses ist hier die Hauptsache. Der Historienmahler ist der Mahler des menschlichen Gemüthes, seiner Empfindungen und seiner Leidenschaften. Wenn das historische Gemähld nichts, als die eigentlichen Vollkommenheiten der Kunst hätte, vollkommene Anordnung, die richtigste Zeichnung, das schönste Colorit, so wär es darum doch, als Historie betrachtet, ein schlechtes Stük, weil es seinem Endzwek nicht entsprechen würde. Es könnte in dem Cabinet eines Mahlers oder Kenners, als ein Muster gewisser Theile der Kunst aufbehalten, aber zu keinem höhern Gebrauch aufgestellt werden. Soll es, als Historie, gut seyn, so muß es nicht blos das Aug, sondern den Geist und die Empfindung reitzen; es muß dem empfindsamen Menschen Gedanken und Empfindungen[540] erweken, die in ihm würksam werden. So wie die Gemählde der Wollust, von einem in Feuer getunkten Pensel gemahlt, in der animalischen Seele Flammen erweken, so muß das historische Gemählde, das dem Mahler Ehre machen soll, der sittlichen Seele einen vortheilhaften Stoß geben. Dadurch verdienen sie zur Unterstützung der Andacht in Tempeln, oder zur Erwekung patriotischer Empfindungen in öffentlichen Gebäuden, oder zur Nahrung für die Privattugend in den Zimmern aufgestellt zu werden.

Man muß in dem historischen Gemählde verschiedene Gattungen wol von einander unterscheiden, weil ihr Charakter sehr verschieden ist. Die eigentliche Historie stellt eine würkliche Handlung oder Begebenheit in einem merkwürdigen Augenblik vor, und sucht die sich dabey äußernden Fassungen der intressirten Personen sichtbar zu machen. Die Moral oder das sittliche Gemählde, stellt ein Beyspiel handelnder Personen vor, aus dessen Betrachtung eine bestimmte Lehre oder Maxime anschauend erkennt werden kann; sein Charakter wird in einem besondern Artikel näher bestimmt1. Die Allegorie verhält sich zur Moral ohngefehr, wie das Gleichnis zum Beyspiel. Sie ist schon an einem andern Orte betrachtet worden. Einer andern Gattung könnte man den Namen der Gebräuche geben; sie dienen blos, um zur Nachricht, oder zum Ergetzen Gebräuche und Sitten aus dem gemeinen Leben, häusliche Verrichtungen, oder auch öffentliche Feyerlichkeiten abzubilden. Dahin kann man auch die sogenannten Gesellschaftsgemählde rechnen. Eine andre Gattung könnte man füglich mit dem Namen der Bilder belegen. Sie stellen blos einzele merkwürdige Personen, in intressanten Situationen, oder zur Abbildung ihres Charakters vor; so wie bey den Alten die Bilder der Götter und Helden, und bey den Neuern die Bilder der Heiligen. Ihr Charakter ist gerade der, der den Statuen zukömmt2. Endlich ist noch eine Gattung, die man Schlachten oder Bataillen nennt, davon auch schon besonders gesprochen worden3. Jede dieser Gattungen hat ihren eigenen Geist, den der Mahler nicht verfehlen därf. Hier wird hauptsächlich von der eigentlichen Historie gesprochen.

Ihre Absicht ist, uns das Betragen, die Empfindungen und Leidenschaften der Menschen bey wichtigen Zufällen und Handlungen lebhaft vorzubilden und uns das fühlen zu lassen, was wir könnten gefühlt haben, wenn wir in dem Augenblik der Handlung, der vorgestellt wird, die Sachen in der Natur gesehen hätten. Es bedärf keiner weitern Ausführung, um die Wichtigkeit und den Nutzen dieser Gattung zu zeigen. Der Historienmahler ist auf eben die Art nützlich, wie der epische und der dramatische Dichter, ob er gleich sehr viel eingeschränkter ist.

Die erste Sorge des Mahlers geht auf die Wahl der Materie, wobey es um so viel mehr nöthig ist, ihm Nachdenken und Ueberlegung zu empfehlen, da der große Haufen der Mahler so gar unüberlegt und so gar ohne Verstand handelt, daß bald nichts selteners ist, als historische Gemählde, die sich durch ihren Inhalt empfehlen. Nichts bedeutende Handlungen, wenn ihrer nur in der Bibel, oder in den Verwandlungen des Ovidius, oder in der griechischen Mythologie gedacht wird, werden gar zu oft, auch von guten Künstlern, als ein würdiger Stoff gewählt, wenn gleich kein Mensch zehen Schritte thun würde, die abgebildete Sach in der Natur selbst zu sehen. Der Historienmahler soll nie darum arbeiten, daß er blos seine richtige Zeichnung, oder seinen guten Pensel sehen lasse. Er sollte vergessen, daß er ein Mahler ist, und seinen Stoff blos, als ein verständiger Mann betrachten, um die Würkung zu bemerken, welche die Sachen, nicht auf sein mahlerisches Aug, sondern auf sein Gemüth thun. Er suche die Begebenheit, ehe er sie bearbeitet, von Figur und Farbe zu entblößen; und überlasse sich den Empfindungen, die das Unsichtbare der Sach in seinem Gemüth erwekt. Aber, wie unverständige Prediger jedes Wort, das ein Profet oder Apostel bey einer nichts bedeutenden Gelegenheit, auch wol ohne bestimmte Absicht gesprochen hat, zum Text einer Predigt wählen, so machen es auch die Mahler. Dinge, die man täglich sehen kann, wobey man nichts ungewöhnliches denkt oder empfindet, Handlungen, die das gemeinste Maaß der Kräfte erfodern, müssen gar nicht gemahlt werden. Man kann sie ja überall in der Natur sehen.

Zum zweyten soll der Mahler genau überlegen, daß er einen ganz andern Beruf hat, als der Geschichtschreiber. Sollten auch gleich in den alten Zeiten die zeichnenden Künste würklich zum Behuf der Geschichte angewendet worden seyn, so wär es doch ungereimt, sie itzt noch dazu zu brauchen, da man weit bessere Mittel hat, das Andenken der Begebenheiten[541] auf die Nachwelt zu bringen. Die Geschichte muß von dem Mahler nicht historisch abgebildet werden, dafür sorget der Geschichtschreiber; er aber muß den Geist der Sache darstellen. Sollten irgend einem Mahler diese Lehren nicht verständlich genug seyn, so mahle er lieber andre Dinge, als Historien; es würde ihm auch nicht viel helfen, wenn sie weitläuftig entwikelt würden. Hat der Mahler einen guten Stoff angetroffen, und den Geist desselben in dem bestimmten und intressanten Eindruk, den die Sach auf ihn selbst gemacht hat, empfunden, so nehme er seinen Inhalt noch einmal in Betrachtung, um seinen eigentlichen Charakter genauer zu überlegen, und zu erkennen, ob er ins Erhabene, oder blos ins Ernsthafte, ob er in das Zärtliche, oder in das Pathetische, in das Rührende, oder blos Angenehme, ob er in das Hohe oder Gemeine einschlage; denn daraus muß das Besondere in dem Charakter der Personen, in den Leidenschaften, so gar im Aeußerlichen, in der Behandlung und in dem Ton der Farben, bestimmt werden. Viele Mahler scheinen gar nicht zu überlegen, wenn sie die Einsetzung des Abendmahls, oder die Mahlzeit mit den beyden Jüngern in Emaus vorstellen, ob sie eine gewöhnliche, alltägliche Mahlzeit, oder bey einer Mahlzeit eine Sache vorstellen, die des höchsten Pathetischen fähig ist.

Hat der Mahler seinen Stoff mit Ueberlegung gewählt, und den Geist desselben, als ein Mann von Empfindung festgesetzt, so denke er an den schiklichsten Augenblik der Handlung. Hierüber sind in einem andern Orte verschiedene Anmerkungen beygebracht worden.4

Wegen des Inhalts der Historie ist noch dieses ein wichtiger Punkt, daß der Mahler wol überlege, ob er seinen Stoff auch verständlich genug werde machen können. Es kömmt ungemein viel und gar ofte das meiste darauf an, daß wir das, was uns von der Geschicht und den Personen bekannt ist, herbeyrufen, um die Kraft der Vorstellung zu fühlen. Wir müssen bey einem guten Gemählde ungemein vielmehr denken, als der Mahler würklich mahlen kann. Dieses Mehrere entspringt daraus, daß wir bey Gelegenheit dessen, das wir sehen, uns einer Menge andrer dazu gehöriger Sachen erinnern. Darum ist es überaus wichtig, daß uns der Inhalt des Gemähldes ganz verständlich sey; daß wir sogleich die Personen kennen und gerade den Punkt, auf welchen es mit der Handlung gekommen ist, bemerken. Beydes ist oft sehr schweer. Wir wollen zur Erläutrung dieser Anmerkung den Tod des Ananias von Raphael, wie er in einem der berühmten sieben Cartone, die in England sind, vorgestellt ist, zum Beyspiel nehmen. Wem diese Geschichte bekannt ist, der wird sogleich merken, was hier vorgestellt ist. Der große Künstler hat es deutlich machen können, daß hier nicht ein Mensch vorgestellt wird, den etwa eine Ohnmacht befällt, dieses würde wenig rühren; man erkennt aus der Stellung, der Gebehrdung, und dem erhaben fürchterlichen Gesichte des Apostels so gleich, was alles zu bedeuten hat. Dazu aber gehört nicht blos Genie und Beurtheilung, sondern ofte große Kenntnis, damit man durch das Uebliche, durch die Kleidung und andere Nebenumstände, den Inhalt des Gemähldes zu erkennen gebe. Als eine Probe einer sehr geistreichen Bezeichnung des Inhalts kann ein schönes radirtes Blat von Füßli5 angeführt werden, unter welches er die Worte Spectrum Dioneum hat stechen lassen. Der Ort der Scene ist ein Saal, in welchem man einen, von seinem Sitz in dem größten Schreken und Entsetzen zurükfahrenden Mann erblikt. Dieses Entsetzen wird von einem Gespenst verursachet. Eine Figur, die man an ihren brennenden Haaren, und an der wüthenden Bewegung, in welcher sie, mit einem ebenfalls brennenden, Hebebaum einen Altar umstürzt, gleich für eine Furie, oder für ein höllisches Gespenst hält, fährt wüthend durch den Saal. Die Bekleidung der Hauptfigur ist antik und griechisch, wie sie einem Manne vom ersten Range zukömmt. Alles, was man in dem Saal sieht, führet darauf, an diesem Manne den Dion zu erkennen. Er lehnet [542] den linken Arm auf einen kleinen völlig nach antiker Art gemachten Tisch, auf welchem man eine von kostbarem Stein geschnittene Schaale sieht, auf deren Grunde das Wort ΣΥΡΑΚΟΣΙΩΝ6 eingegraben ist. Dieses führet sogleich auf den Gedanken, daß dieser Mann einer der ersten Männer in Syrakusa seyn müsse. Hinter ihm erbliket man auf einem prächtigen Postament zwey in Stein gehauene Brustbilder, davon das eine den ehemaligen König Hieron, das andre den Philosophen Plato vorstellt. Daher entsteht die Vermuthung, daß dieser Mann der Dion sey. Betrachtet man die Handlung der Furie näher, so sieht man an dem Altar, den sie umstürzt, diese Aufschrift: CΥΝΘΡΟΝΟΙC ΤΟΙC ΕΝ CΙΚΕΛΙΔΙ ΘΕΟΙC ΔΙΩΝ ΑΝΕΘ.7 Dieses macht uns völlig gewiß, daß wir hier den Dion in seinem Hause sehen, und daß das schrekliche Gesicht abgebildet werde, das er kurz vor dem Tode seines Sohnes gehabt, dessen Plutarchus in dem Leben des Dions Meldung thut. Zu den Füßen des Dions liegt eine Tafel, auf welcher eine Stelle aus der Ilias zu lesen ist.


Παιδι δοκεν Θανατον της δ ἠεροφοιτις Εριννυς

Εκλυεν ἐξ Ερεβευςφιν –– –– ––8


Dieses könnte auf die Vermuthung führen, daß Dion eben diese Stelle aus der Ilias gelesen, und daß die schrekhafte Vorstellung dieser Sache ihm die Einbildungskraft verwirrt und das Gesicht verursachet habe. Wenn aber dieses die Absicht des Künstlers gewesen ist, so hätte er diese Stelle lieber auf das Convolut, oder Buch, das Dion würklich noch in der Hand hat, schreiben sollen.

So finden Künstler von Genie und Kenntnis allemal Mittel, den Inhalt, oder den eigentlichen Stoff ihrer Gemählde dem Kenner verständlich zu machen; wiewol dieses oft eine sehr schweere Sach ist. Hat der Mahler alle diese Punkte berichtiget, so kann er nun das, was die vollkommene Behandlung, seines Stoffes betrift, in Ueberlegung nehmen. Hier ist nun das Wichtigste, daß er, wie der dramatische Dichter, Personen von bestimmtem Charakter wähle, die Antheil an der Handlung nehmen, und daß er jede gerade in der Faßung, oder Leidenschaft, die ihr zukömmt, vorzustellen wisse. Müßige Personen, durch deren Gegenwart die Scene nicht intressanter wird, thun dem Gemähld eben den Schaden, den sie einer lebhaften Scene im Schauspiele thun. Aber wenige Mahler haben dieses genugsam überlegt. Wenn sie die Hauptpersonen hingestellt haben und finden, daß die Gruppen nicht voll, oder nicht zusammenhangend genug sind, wenn sie etwa zur Haltung irgendwo gewisse Farben nöthig haben, so stellen sie gleich eine unnütze Figur dahin, die zwar das Aug etwas befriediget, aber in das Feuer der Empfindung Wasser gießt. Sollte es dem Mahler nicht möglich seyn, mit den nothwendig zur Handlung gehörigen, oder doch zuläßigen Personen, dem Mechanischen der Kunst genüge zu leisten, so lasse er lieber in dem Körperlichen des Gemähldes eine Unvollkommenheit zu, als in dem Geist und der innern Würkung. Bey vielen historischen Vorstellungen, die man auf Gemählden, auf geschnittenen Steinen und größerem Schnizwerk der Alten findet, ist man so sehr mit dem lebhaften Ausdruk dessen, was wir den Geist des Gemähldes nennen, beschäftiget, daß man das Fehlerhafte der Gruppirungen und andre Fehler, gegen das Mechanische der Kunst, würklich übersieht.

Eben so wenig hat der Mahler nöthig der historischen Wahrheit zu gefallen unnöthige Personen zuzulassen. Er hat jedesmal einen genau bestimmten Gesichtspunkt, aus welchem er die Geschichte, die er mahlt, ansieht, und muß gerade nur so viel Personen wählen, als dazu nöthig ist, ohne sich darum zu bekümmern, ob würklich bey der Handlung mehrere zugegen gewesen. So sind z. B. bey der Creuzigung Christi viel tausend Zuschauer gewesen. Der Mahler aber, der nun nicht die äusserlichen Umstände dieser Handlung, sondern nur eine gewisse Würkung, die ein besonderer Umstand auf gewisse Personen gehabt hat, uns will empfinden lassen, kann ohne Bedenken von der ungeheuren Menge der Zuschauer nur die, die ihm nöthig sind, vorstellen. Es wird ihn kein Verständiger tadeln, als wenn es unnatürlich wäre, daß er so wenig Personen auf die Scene geführt hat.

Ein Mahler ohne Genie raft so viel körperliche Materie zusammen, als er nur kann, um das Auganzufüllen; [543] der große Mahler, sucht die kleineste Anzahl Personen, die nur möglich ist, weil er an einer einzigen Person viel auszudrüken hat. Der Dichter braucht oft zum Ausdruk des höchsten Affekts, die wenigsten Worte, und so kann der Mahler eine an Empfindung sehr reiche Scene durch die wenigsten Umstände vorstellen.

Man hat alte Münzen, auf denen römische Kayser vorgestellt sind, die von dem Rednerstuhl eine Anrede an ihr Heer halten. Das ganze Heer wird ofte durch wenig Befehlshaber vorgestellt; denn wozu nützte es ein ganzes Heer vorzustellen? Gesezt, daß der Mahler historisch vorstellen wollte, wie Cäsar, nachdem er über den Rubicon gegangen, seinem Heere Muth zu machen, eine Anrede an dasselbe gehalten. Wenn nun seine Absicht dabey nicht ist, diese Handlung des Gepränges wegen vorzustellen, oder uns diese Scene ganz übersehen zu lassen, sondern nur die zuversichtliche Kühnheit des Feldherrn, und die Würkung derselben auf seine Unterbefehlshaber, so vergeben wirs ihm gar gerne, daß er uns nur wenig Personen in der Nähe des Redners vorstellt, und das ganze Heer etwas in der Entfernung nur andeutet, oder gar durch etwas Hervorstehendes bedeket. Der Mahler muß es sich zur Hauptregel machen, nur das Nothwendige in sein Gemählde zu bringen.

Nachdem der Inhalt, die Scene, die Personen und die Bezeichnung der Sachen völlig berichtiget sind, hat nun der Künstler an das Wesentliche, nämlich den wahren Ausdruk der Sachen zu denken, um dessentwillen alles andre veranstaltet worden. Da muß er vor allen Dingen sich selbst erforschen, was er in seiner Geschichte fühlt, was ihn an den Personen, die er in der Phantasie schon vor sich sieht, rühret: und dieses muß er uns so lebhaft vorstellen können, daß wir in dieselben Empfindungen gerathen, die er in sich wahrnihmt. Er kann aber immer voraussetzen, daß das Gemählde, welches er auf die Leinwand bringt, nie so lebhaft seyn werde, als es würklich in seiner Phantasie liegt; denn auch der geschikteste Künstler wird selten alles ausdrüken können, was er innerlich sieht. Darum kann er nicht erwarten, daß die, für welche er arbeitet, eben so stark von seiner Arbeit werden gerührt werden, als er selbst von der Vorstellung derselben gerührt ist: und dieses muß ihm die Klugheit geben, nichts zu bearbeiten, bis er eine Vorstellung davon entworfen hat, deren Würkung noch immer intressant bleibet, wenn sie auch noch etwas geschwächt würde. Nach einer guten und glüklichen Erfindung des Gemähldes ist nichts so wichtig, als der redende Ausdruk der Figuren. Nur das Gemähld ist vollkommen, in dem jede Figur durch ihre Stellung, Gebehrdung und Gesichtsbildung wahrhaftig redend ist, und uns sogleich das, was in ihrem innern vorgeht, entdeken läßt.

Man siehet hieraus, wie höchst schweer es sey ein vollkommenes historisches Gemählde zu machen. Der Historienmahler muß nicht blos, wie ein andrer Mahler eine reiche und mit allen Annehmlichkeiten erfüllte Phantasie besitzen, nicht blos Zeichnung, Colorit und alles, was zur Ausführung gehört, in seiner Gewalt haben. Durch diese Talente würde er wol in Stand gesetzt natürliche Vorstellungen zu machen; aber die innere Kraft des historischen Gemähldes erreicht er dadurch nicht. Wir wollen nicht Menschen sehen, wie wir sie täglich zu sehen gewohnt sind; nicht sittliche Gegenstände, wie sie uns immer vor Augen kommen, und die deswegen nicht mehr intressiren. Wir erwarten Sachen von ihm, die unsren Verstandes und Gemüthskräften einen stärkern Schwung geben. Er soll uns mit Menschen bekannt machen, die wir ihres Charakters halber bewundern, oder die uns wenigstens sehr intressant sind. Darum muß er, so wie der Dichter, ein Mann von großem Verstand, und von vorzüglichen Gemüthskräften seyn. Denn, was er selbst nicht zu fühlen im Stand ist, wird er gewiß uns nicht empfinden machen. Er muß ein Philosoph seyn, der gewohnt ist, das Genie und die Charaktere des Menschen zu erforschen, ihre Urtheile, Gesinnungen und Leidenschaften gegen einander abzuwiegen. Ihm müssen Menschen von höherm Geist, und überwiegenden Seelenkräften bekannt seyn, und ihre Stärke muß er können empfindbar machen. Wer nicht zuversichtlich empfindet, daß er das Große und Kleine in der Gemüthsart der Menschen und in ihrer Art zu handeln zu beurtheilen vermag, der muß sich nicht mit dieser Gattung der Mahlerey abgeben.

Nihmt er seinen Inhalt aus entfernten Geschichten und aus fremden Ländern, so muß er eine genaue Kenntnis der Sitten und der Gebräuche des Landes haben, dahin er seine Scene versetzt, damit er, wie oben an einem Beyspiele gezeiget worden, [544] alles genau bezeichnen und auch richtig abbilden könne. Blos das Studium dessen, was man das Uebliche (Costume)9 nennt, erfodert langen Fleis und viel erworbene Kenntnis. Je genauer der Mahler von den Sitten und Gebräuchen der Nationen unterrichtet ist, je leichter wird es ihm seinen Inhalt verständlich zu machen. Es giebt aber auch etwas Nationales in der Bildung der Menschen, und vielleicht auch in der Stellung und in den Bewegungen. Ein feines Aug unterscheidet gar oft den, ihm unbekannten, Engländer, Franzosen oder Italiäner unter den Deutschen: und so sieht man in den Antiken, wenn man auch auf die Gewänder und andre Nebensachen gar nicht achtete, andre Gesichter, andre Stellungen und Gebehrden, als die sind, die man gegenwärtig in der Natur antrift. Die Figuren in den Werken der römischen Künstler unterscheiden sich auch in diesen Stüken, von denen, die man in den griechischen Werken sieht. Dergleichen Sachen muß der Historienmahler genau bemerkt haben und in der Zeichnung auszudruken im Stande seyn.

Wenn man sich alles, was zu einem vollkommenen historischen Gemählde gehört, vorstellt, so wird man sich nicht wundern, daß es so höchst selten ist, ein untadelhaftes Werk in dieser Art zu sehen.

1S. Moral.
2S. Statue.
3S. Bataille.
4S. Augenblik.
5Dieser junge Gelehrte und Künstler, in welchem der Geist des Michael Angelo zu wohnen scheinet, ist noch wenig bekannt. Er ist ein Sohn des Mahlers Füßli aus Zürich, der die Lebensbeschreibungen schweizerischer Mahler herausgegeben hat. Außer einem bewundrungswürdigen Genie, besitzt er schöne Kenntnisse aus der alten Litteratur. Er war nicht zum Künstler, sondern zum Gelehrten bestimmt, ein würdiger Schüler Bodmers und Breitingers. Aber der natürliche Hang hat ihn ohne Veranstaltung zum Zeichner gemacht. Er gieng 1763 nach England, und befindet sich itzt seit einem Jahr in Rom.
6d. i. von den Syrakusern.
7d. i. denen über Sicilien herrschenden Göttern, setzte Dion diesen Altar.
8II. I. vs. 567 d. i. (Sie hatte den Pluto und die Proserpina beschwohren) daß sie ihren Sohn umbringen möchten; und sie erhörte in dem Erebus die im finstern herumirrende Erinnys.
9S. Uebliche.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 540-545.
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540 | 541 | 542 | 543 | 544 | 545
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