Theilnehmung

[1155] Theilnehmung. (Schöne Künste)

Die gute Würkung der wichtigsten Werke des Geschmaks gründet sich auf die Eigenschaft des menschlichen Gemüthes, der zufolge wir gar ofte von dem Guten und Bösen, das andern Menschen begegnet, wie von unserm eigenen gerührt werden, und deswegen einen wahren und herzlichen Antheil daran nehmen. Erzählungen solcher Begebenheiten, oder Vorstellungen solcher Handlungen, bey denen die intereßirten Personen in starke Leidenschaften gerathen, sezen auch die unsrigen in merkliche Würksamkeit, auch so gar in dem Falle, da wir wissen, daß alles blos erdichtet ist. Das schon so lange vergangene, oder vieleicht gar erdichtete große Leiden des Priamus, oder Philoktets, preßt uns Thränen aus, wenn wir die Schilderung derselben in der Ilias, oder beym Sophokles lesen; und so fühlen wir Zorn und Unwille, wenn uns Tacitus die verfluchte Tyranney einiger der ersten Cäsare in seiner Erzählung schildert, obgleich ihre Würkung schon so viel Jahrhunderte lang aufgehört hat. Wir erwarten dabey den gewaltsamen und wolverdienten Tod eines solchen Tyrannen bald mit eben der Ungeduld, als wenn wir selbst noch unter dem Druk seiner so schändlich gemißbrauchten Gewalt lebten.

Es ist hier der Ort nicht den Grund dieser Theilnehmung zu erforschen; wir können die Sache selbst, als gewiß, voraussezen, um zu sehen, wie die schönen Künste sich derselben mit Vortheil zu bedienen haben. Indessen haben wir bereits an ein paar Orten dieses Werks, die eigentliche Quelle, woraus sie entstehet, deutlich angezeiget.1

Dieser glükliche Hang an fremden Interesse Theil zu nehmen, und, selbst erdichtetes Gutes und Böses sich gleichsam zuzueignen, können die schönen Künste sich mit großem Vortheile zu Nuze machen. Indem Horaz von den Dichtern sagt:


Aut prodesse volunt aut delectare poetæ

Aut simul et jucunda et idonea dicere vitæ.


zeiget er das doppelte Hauptinteresse aller Künstler an. Wollen sie uns angenehm unterhalten, so können sie ihren Zwek nicht besser erreichen, als wenn sie uns Scenen schildern, die vermöge der Theilnehmung unsre Neigungen und Leidenschaften in lebhaftes Spiehl sezen; und wenn sie nüzlich und lehrreich seyn wollen, so können sie es eben dadurch auf eine vorzügliche Weise seyn. Dieses ist aber bereits an andern Orten hinlänglich gezeiget worden.2

Die Theilnehmung beruhet hauptsächlich auf der Aufmerksamkeit, die wir auf die vorgeschilderte Gegenstände richten. Je größer sie ist, je mehr vergessen wir unsern würklichen Zustand, und je stärker fühlen wir den eingebildeten, in dem wir uns bey Gelegenheit dessen, was uns vorgestellt wird, sezen. Deswegen muß der Künstler sehr besorget seyn, daß die Aufmerksamkeit auf den vorgestellten Gegenstand durch nichts geschwächt, oder gar unterbrochen werde. Alles was die Täuschung befördert, oder hindert, ist auch der Theilnehmung beförderlich, oder hinderlich: darum haben wir nicht nöthig das, was bereits hierüber gesagt worden,3 zu wiederholen.

1S. Leidenschaft. S 700. 701. und Täuschung
2S. Empfindung; Leidenschaft.
3S. Täuschung
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1155.
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