Theilung

[1154] Theilung. (Musik)

Unter diesem Worte begreifen wir das, was die Tonsezer insgemein durch das lateinische Wort Diminutio anzeigen. Es wird nämlich bey dem Unterricht im Contrapunkt, nachdem gezeiget worden, wie zu einem Choralgesange von einer Stimme, noch andre Stimmen von gleichen Noten sollen gesezt werden, hernach auch gelehret, wie solche Stimmen dazu zu sezen seyen, da auf eine Note des vorgeschriebenen Chorals, in den andren Stimmen mehrere Noten von geringerer Geltung kommen. Diese Noten sind dann Diminutiones genennt worden, weil ihre Geltung mußte vermindert werden; da man gegen eine halbe Taktnote zwey Viertel, oder vier Achtel sezte. Eben so kommen auch in dem doppelten Contrapunkt Nachahmungen und Canons von Noten kleinerer Geltung vor, die man deswegen Imitationes per Diminutionem genennt hat.

Wir betrachten die Sache hier überhaupt als die Theilung eines Tones in mehrere, und in so fern auf eine Sylbe des Textes, oder auf ein Glied des Taktes, anstatt einer Note, mehrere gesezt werden. Der zierliche, melismatische Gesang, unterscheidet sich von dem schlechten, oder ganz einfachen Choralgesange, hauptsächlich dadurch, daß in jenem ofte statt eines einzigen Tones, der nach Maßgebung des Taktes eine halbe, Viertel- oder Achtelnote seyn sollte, mehrere, die aber zusammengenommen, nur die Geltung des einen haben, gesungen werden.

Wenn man es auch zur Regel machen wollte, daß in dem Saze auf jede Sylbe, oder in Instrumentalsachen auf jeden Takttheil, nur ein Ton gesezt werden soll; so würden doch gefühlvolle Sänger und Spiehler sich gewiß nicht daran binden, sondern gar oft den Ton einer Sylbe des kräftigern Ausdruks halber in mehrere theilen. Ohne Zweifel hat also die Theilung in dem affektvollen Gesang ihren Grund. In der That würde man dem Gesang und auch den Instrumentalmelodien, die feinesten Schönheiten benehmen, wenn man keine getheilten Töne zugeben, und in den 3/4 Takt blos Viertel, in dem 3/8 oder 6/8 Takt lauter Achtel haben wollte. Man würde dieser Einförmigkeit bald müde werden.

Es sind aber bey dieser Theilung der Töne einige sehr wesentliche Regeln genau zu beobachten, wenn der Saz nicht soll verworren werden. Man kann nicht in jeder Taktart, jede Theilung anbringen, sondern nur solche, bey denen der Gang des Taktes nicht verdunkelt werde. So leidet z.B. der gemeine Allabrevetakt nicht wol eine Theilung in Achtelnoten. Was aber hievon zu erinnern wäre, ist bereits im Artikel Takt, bey jeder Taktart angezeiget worden. Damit der Gang des Taktes bey vielstimmigen Stüken durch die Theilungen nicht verdunkelt werde, müssen sie nie in allen Stimmen zugleich angebracht werden; es muß allemal eine Stimme durch die der Taktart eigene Taktglieder fortschreiten.

Auch ist bey der Theilung in nachgeahmten Säzen genau darauf zu sehen, daß dadurch der Nachdruk, den eine Sylbe, oder ein Takttheil haben muß, nicht verändert werde, und daß nicht das, was in dem[1154] Hauptsaz im Niederschlag gewesen, bey der Nachahmung im Aufschlag komme, oder umgekehrt.

Dieser Theilung einer Note in mehrere ist die Verlängerung einer Note (Augmentatio) entgegen gesezt, da statt zwey, drey, oder vier Töne, die auf einem Takt stehen sollten, nur ein einziger angebracht wird, um ihm desto größeres Gewicht zu geben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1154-1155.
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