Choral

[204] Choral. (Musik)

Ein vierstimmiger Gesang, der weder figurirt noch rythmisch ist. Er ist gesetzt, um in Kirchen von der ganzen Gemeinde abgesungen zu werden. Man nennt ihn auch den Gregorianischen Gesang, weil Pabst Gregorius der Grosse ihn eingeführt haben soll. Die Franzosen nennen ihn plain chant und die Italiäner Canto firmo. Er ist der einfacheste Gesang, der möglich ist, und schiket sich zu stillen, und etwas ruhigen Betrachtungen und Empfindungen, die insgemein den Charakter der Kirchenlieder ausmachen. Er ist einer grossen Rührung fähig, und scheinet zu ruhigen Empfindungen weit vorzüglicher zu seyn, als der figurirte melismatische Gesang: wie denn überhaupt überaus wenig dazu gehört, sehr tiefe Empfindungen einer ruhigen Art zu erweken.1 Wenn er aber seine ganze Kraft behalten soll, so muß durch den Gesang der Fall der Verse, und folglich das richtige Zeitmaas der Sylben, nicht verlohren gehen; nur das cadenzirte, zu abgemessene rythmische Wesen, welches unsre heutigen figurirten Tonstüke gemeiniglich gar zu sehr der Tanzmusik nähert, muß aus dem Choral gänzlich wegbleiben.

Der Choral wird allemal vierstimmig gesetzt, und jede der vier Stimmen ist eine Hauptstimme. Dieses macht seine Verfertigung, obgleich gar wenig Erfindung dazu gehört, dem, der nicht ein vollkommener Harmoniste ist, sehr schweer; weil bey dem langsamen und nachdrüklichen Gange desselben, auch die kleineste Unrichtigkeit in der Harmonie sehr fühlbar wird. Man muß dabey mit den Dissonanzen sparsam seyn, die sich ohne dem zu dem sanften Affekt des Kirchengesanges nicht so gut, als zu unruhigen Leidenschaften schiken. Es ist möglich, daß ein blos zweystimmiger Choral, da die Harmonie der Mittelstimme etwa, wo es nöthig ist, durch die Orgel ausgefüllt würde, noch bessere Würkung thäte. Denn da die Stimmen doch, um harmonische Fehler zu vermeiden, sich gegen einander bewegen müssen: so scheinet es nicht natürlich, daß bey einerley Empfindung, einer mit der Stimme steigt, da der andre fällt, und der dritte auf derselben Höhe stehen bleibt.

Der beste Choralgesang scheinet der zu seyn, der am einfachesten, durch kleinere diatonische Intervalle fortschreitet, und die wenigsten Dissonanzen hat, dabey aber die Geltung der Sylben auf das genaueste beobachtet wird.

In den Chorälen richtet man sich noch nach den alten Tonarten, den sechs authentischen und so viel plagalischen. Man kann nicht leugnen, daß nicht dadurch, wenn nur übrigens gut temperirte Orgeln vorhanden sind, eine noch mehrere Mannigfaltigkeit der Charaktere des Gesanges erhalten werde, als wenn man, nach einer gleichschwebenden Temperatur, alles auf die itzt in der andern [204] Musik üblichen zwey Tonarten bringen wollte. (S. Tonart.)

Es wär ein grosses Vorurtheil, sich einzubilden, daß ein starker Meister der Kunst sich dadurch erniedrige, wenn er sich mit Verfertigung der Choräle abgiebt; denn sie sind nicht nur wegen ihrer grossen Würkung zu tiefer Rührung des Herzens, sondern auch wegen der vollkommenen Kenntniß aller harmonischen Schönheiten, und strenger Beobachtung der Regeln der Harmonie, der Mühe eines grossen Meisters würdig. Mancher, der ein gutes Solo oder Concert machen kann, würde nicht im Stande seyn, einen erträglichen Choral zu verfertigen.

Auch die Ausführung des Chorals, sowol in den Stimmen als auf der Orgel, ist nichts schlechtes. Wer nicht jedem Ton seinen Nachdruk und seine bestimmte Modification zu geben, und die äusserste Reinigkeit zu treffen weiß, kann den rührendsten Gesang verderben. Je entblößter ein Gesang von melodischen Auszierungen und Schönheiten ist, desto kräftiger, nachdrüklicher und in seiner Art bestimmter, muß auch jeder Ton angegeben werden, wenn der Gesang Kraft haben soll. Der Begleiter hat grosse Ueberlegung und Kenntniß nöthig, daß er einfach sey und in seinen Schranken bleibe. Es kommt hiebey gewiß nicht darauf an, daß man nur beyde Hände recht voll Töne fasse; dieses verderbt vielmehr die Schönheit des Gesanges. Vornehmlich muß man sich für melismatischen Auszierungen und Läufen hüten, womit ungeschikte Organisten dem Choralgesang aufzuhelfen glauben, da sie ihn doch dadurch gänzlich verderben.

1S. Lieder.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 204-205.
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204 | 205
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