Troken

[1183] Troken. (Schöne Künste)

Es ist schweer den eigentlichen metaphorischen Sinn dieses Worts, wenn es von Werken des Geschmaks gebraucht wird, zu bestimmen. Es scheinet überhaupt einen Mangel ästhetischer Annehmlichkeit eines Gegenstandes auszudrüken. Sehen wir auf die eigentliche Bedeutung zurüke, in der das Wort ebenfalls etwas mangelhaftes bedeuten kann, so finden [1183] wir, daß es auch den Mangel der Säfte anzeiget, wodurch die natürlichen Körper des Pflanzen- und des Thierreiches ein gesundes und wolgefälliges Ansehen bekommen. Eine trokene Pflanze ist zwar keines der ihr zukommenden wesentlichen Theile beraubet, aber der Lebenssaft, daher sie die volle Schönheit der Gestalt und das Gefällige des Ansehens erhalten sollte, fehlet ihr. Hievon scheinet die Bedeutung des Wortes, wenn es von Gegenständen des Geschmaks gebraucht wird, hergenommen zu seyn.

Diesem zufolge würde die Trokenheit zwar keinen Mangel des Wesentlichen oder des Nothwendigen; sondern blos Armuth, oder gänzliche Beraubung des Annehmlichen ausdrüken. In der That sagt man von einer Erzählung sie sey troken, wenn sie auch bey der genauesten Richtigkeit des Wesentlichen der Geschichte, bey Anführung der kleinesten Umstände, weder die Phantasie, noch die Empfindung, angenehm unterhält: und so wird überhaupt jeder Gegenstand des Geschmaks, der nur dem Verstande Richtigkeit zeiget, für den sinnlichen Theil unsrer Vorstellung aber nichts reizendes hat, troken genennt.

Und hieraus läßt sich unmittelbar abnehmen, daß die Trokenheit in Werken des Geschmaks ein sehr schweerer Fehler sey, weil sie dem Zwek derselben gerad entgegen steht. Eben der Annehmlichkeiten halber, in deren Mangel das Trokene besteht, wird ein Gegenstand ästhetisch, oder für die schönen Künste brauchbar, daher würde das schönste Gedicht, die Aeneis z.B. in einer trokenen Uebersezung aufhören ein Gedicht, ein Werk des Geschmaks zu seyn.

Man verfällt leicht ins Trokene, wenn man blos mit dem Verstand arbeitet und weder der Einbildungskraft, noch dem Herzen einen Antheil an der Arbeit giebt. Was in Absicht auf strenge Wissenschaft ein glüklicher Schwung des Genies ist, sich immer blos am Wesentlichen der Begriffe zu halten, und alles bis zur höchsten Deutlichkeit zu entwikeln, wird in schönen Künsten verderblich. In Werken des Geschmaks kommen die Säfte, wodurch sie ihr Ansehen, ihre Annehmlichkeiten und ihre Reizungen bekommen, von glüklicher Mitwürkung der Phantasie und des Herzens her. Wessen Phantasie bey der Arbeit nicht erhizt ist, oder wenigstens lacht; wessen Herz nicht Wärme dabey fühlt, der läuft Gefahr, troken zu werden. Bey den mühesamen Arbeiten ist man in diesem Falle; deswegen jeder Künstler wolthut das Werk von der Hand zu legen, so bald ihm die Arbeit mühesam wird. In Werken des Geschmaks alles nach Regeln abpassen, anstatt dem Feuer des Genies zu folgen, macht ebenfalls troken. Nur die, die ihrer Materie völlig Meister sind, und die Mittel zur Ausübung gänzlich in ihrer Gewalt haben, vermeiden die Trokenheit.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1183-1184.
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