Uebereinanderstellung; Ueberstellung

[1187] Uebereinanderstellung; Ueberstellung. (Baukunst)

In großen und hohen Gebäuden, hauptsächlich bey Thürmen geschieht es bisweilen, daß jedes der übereinanderstehenden Geschosse seine eigene Säulen hat. In diesen Fällen hat der Baumeister verschiedenes zu bedenken, um nicht gegen die Regeln anzustoßen.

Was zuerst hiebey in die Augen fällt, sind die zwey Grundsäze, auf welche das Wesentliche in der Uebereinanderstellung ankommt. Daß die schwächere Ordnung oben, und die stärkere unten komme, und daß die Säulen gerade übereinanderstehen, so daß die Axen der übereinanderstehenden Säulen in eine einzige senkrechte Linie fallen. Beydes sind nothwendige Regeln, deren Verabsäumung den Geschmak und das Auge beleidigen würde.

Insgemein wird die dorische Ordnung zu unterst gesezt, darüber die jonische, und wo drey Geschosse sind, über dieser die Corinthische oder Römische. Auf diese Weise ist die gehörige Abstufung der Stärke und Festigkeit von unten bis oben wol beobachtet.

Die starke Ausladung der Gebälke könnte verhindern, daß man die Füße der darüberstehenden Säulen nicht mehr sehen könnte. Diesem wird entweder dadurch abgeholfen, daß die untern Gebälke weniger Ausladung über den Fries haben, als ihnen zukäme, oder daß die obern Säulen auf eine über dem untern Gebälke weglaufende Plinthe gesezt werden. Einige Baumeister sezen sie aus eben diesem Grunde auf Säulenstühle. Allein, zu geschweigen, daß sie, weil man die Füße dieser Säulenstühle nicht sehen kann, verstümmelt aussehen, so haben sie noch dieses Nachtheilige, daß dadurch die edle Einfalt zu sehr aufgehoben wird.

Aus der andern Regel folget auch nothwendig, daß die untere Dike des Stammes der Säule, die auf einer andern steht, nicht größer seyn könne, als die obere Dike des Stammes an der darunterstehenden. Daher bekommt nothwendig jedes Geschoß seinen Model, der aus dem Model der untersten Ordnung und der Regel der Verdünnung der Stämme bestimmt werden muß. Wenn also der untere Säulenstamm um 1/5 verdünnet oder eingezogen wird, so ist der Model der zweyten Ordnung 4/5 dessen, wonach die untere abgemessen ist. Ist noch eine dritte Ordnung über der zweyten, so ist deren Model 4/5 dessen, der in der zweyten gebraucht worden, oder 16/25 dessen, der zu unterst angenommen worden.1 Dieses ist schlechterdings nothwendig. Sollte es sich finden, daß dadurch eine der obern Ordnungen in andern Absichten zu niedrig würde, so weiß ein verständiger Baumeister sich durch andre Mittel, als durch Uebertretung einer so wesentlichen Regel zu helfen. Er kann die Plinthe höher machen, oder anstatt der Plinthe einen hohen gerade durch das ganze Geschoß laufenden Fuß anbringen, um die Höhe zu erreichen.

Ein Hauptumstand ist hier noch zu bedenken. Weil die Axen der Säulen nothwendig auf einander treffen müssen, die Model aber in der Höhe immer kleiner werden, so wird auch die Säulenweite in jedem Geschoß anders. Wenn sie z.B. unten 8 Model ist, so ist sie in der nächsten Ordnung 10 und in der dritten 121/2 Model. Dieses kann in den Fällen, wo jede Ordnung Balken- oder Sparrenköpfe oder Zahnschnitte hat, den Baumeister in große Verlegenheit sezen; weil auch die Mitte dieser Theile durch alle Geschosse auf einander, und allemal eine auf die Axe der Säulen treffen muß. Daher kommt es, daß auch von guten Baumeistern häufige Fehler, die daher entstehen, nicht vermieden worden sind. Um so viel mehr hat man Ursache, wegen der Ausmessung dieser Theile, die Goldmannische Regeln anzunehmen, welche allen diesen Schwierigkeiten am sichersten abhelfen.2

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1187.
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