Gerade

[574] Gerade, -r, -ste, adj. et adv. welches in doppelter Gestalt gebraucht wird.

[574] 1. Als ein Bey- und Nebenwort; den kürzesten Weg zwischen zwey Puncten zu bezeichnen, im Gegensatze dessen, was krumm ist. 1) Eigentlich. Eine gerade Linie, deren Theile insgesammt nach Einer Richtung liegen. Gerade gehen, stehen, sitzen. Einen geraden Leib, gerade Füße haben. Den Kopf gerade halten. Sich gerade aufrichten. Jemanden den geradesten Weg führen. O, du immer gerader Weg der Tugend, warum verließ ich dich! Mit geraden Füßen aus dem Bette fahren, schnell, hurtig. Gerades Weges, gerades Fußes zu jemand gehen, unmittelbar darauf, mit Vermeidung aller Umwege, alles Zeitverlustes, sogleich. In gerader Linie von jemanden abstammen, in absteigender Linie, im Gegensatze der Seitenlinien. Zuweilen auch im Gegensatze dessen was schief ist. Eine Säule stehet nicht gerade, wenn sie nicht senkrecht stehet, ob sie gleich an sich gerade ist. 2) Figürlich, von den Zahlen. Eine gerade Zahl, in der Rechenkunst, welche sich in zwey gleich große ganze Zahlen eintheilen lässet, im Gegensatze einer ungeraden. So ist 4 eine gerade, 5 aber eine ungerade Zahl. Fünf gerade seyn lassen, es nicht so genau nehmen, Nachsicht üben. Gerade oder ungerade spielen, ein gewöhnliches Spiel im gemeinen Leben, da man verschiedene Individua in die Hand nimmt, und den andern rathen lässet, ob ihre Zahl gerade oder ungerade ist.

2. Als ein Nebenwort allein, in einigen figürlichen Bedeutungen. 1) In gerader Richtung. Einem gerade gegen über sitzen, wohnen u.s.f. Einem gerade zu entgegen denken und empfinden, Zimmerm. 2) Ohne Umschweif. (a) Überhaupt. Gerade zu gehen, keine Umschweife nehmen, so wohl eigentlich als figürlich. Ein ehrlicher Mann gehet in seinen Handlungen allemahl gerade zu. Hätten sie gerade zu gesagt, ich liebe sie. Sagen sie es nur gerade heraus. Sie würde mich gerade weg einen Ruchlosen gescholten haben. Ich konnte ihm nicht so gerade hin antworten. (b) Besonders, ohne die durch den Wohlstand eingeführten Umschweife. Gerade zu gehen, ohne sich melden zu lassen. Gerade zu mit jemanden umgehen, ohne Complimente. 3) Genau, mit pünctlicher Übereinstimmung mit dem Objecte. (a) Dem Orte nach. Der Schuß traf gerade das Herz. Gerade in die Mitte treffen. (b) Der Zeit nach. Gerade zur selbigen Zeit. Er kam gerade in dem Augenblicke, als u.s.f. Imo tho thas thenkentemo, girado truthines Engil araugta, gerade indem er dieses dachte u.s.f. heißt es schon im Tatian K. 5, 8. (c) Der Zahl, der Beschaffenheit nach. Es wägt gerade drey Centner. Es traf gerade zu. Das war gerade der Trost, worauf sich sein Muth gründete. Das ist gerade die streitige Sache. So wie es mir geht, gerade so geht es auch ihm. Er stellt sich gerade so, als wenn ich es nicht schon wüßte; welcher Fall auch elliptisch ausgedruckt wird: gerade, als wenn ich es nicht schon wüßte, gerade, als wenn er nichts gehöret hätte u.s.f. 4) Nach gerade, im gemeinen Leben, besonders Niedersachsens, für nach und nach; wo es aber vielmehr das Nieders. Graad, ein Grad, zu seyn scheinet, da es denn eigentlich nach Grade heißen müßte.

Anm. Im gemeinen Leben nur grade, im Dän. gerade. Wirft man die Vorsylbe ge weg, so bleibt rade oder rad übrig, welches mit dem Ital. retto, dem Schwed. rät und rad, dem Isländ. rettur und hradur, und nach Einschaltung des Hauches mit dem Lat. rectus, dem Goth. raihts und Deutschen recht überein kommt, wohin auch das Nieders. strak, das Schwed. rak und das bey dem Notker befindliche grihti, für gerade, gehöret. S. Gerecht, Gerichts, Recht und Richtig. Das e am Ende ist das Hochdeutsche e euphonicum, welches um des gelinden[575] Lautes des d willen nothwendig ist, in den Zusammensetzungen aber auch wegfallen kann.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 574-576.
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