Gerade [2]

[620] Gerade (gerade Linie), ein Grundbegriff der Geometrie (s.d.), dessen Definition von jeher besondere Schwierigkeiten gemacht hat. Man begnügt sich am besten zu sagen, daß die G. eine Linie ist, die durch zwei beliebige ihrer Punkte vollkommen bestimmt ist, so daß also zwischen zwei Punkten stets eine, aber auch nur eine G. gezogen werden kann; überdies muß man voraussetzen, daß die G. zwischen zwei Punkten nach beiden Seiten über diese Punkte hinaus beliebig weit fortgesetzt oder, wie man sagt, verlängert werden kann, daß sie also nach keiner Seite begrenzt ist. Hierin liegt zugleich, daß die G. beliebig in sich verschoben werden kann, so daß sie immer mit sich in Deckung bleibt. Ein anschauliches Bild einer Geraden liefert ein mit seinen Endpunkten befestigter, vollkommen gespannter Faden. Ganz verkehrt ist es, die G. als den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten zu erklären, denn dabei wird die Meßbarkeit der Linien vorausgesetzt, die nur ausführbar ist, wenn man den Begriff der Geraden schon hat. Auch die Zurückführung der Geraden auf den Begriff der Richtung ist verfehlt, denn dieser beruht ebenfalls auf dem der Geraden, und wenn wir von der Richtung reden, in der uns etwa ein Stern erscheint, so liegt dabei die Vorstellung zugrunde, daß die von dem Stern ausgehenden Lichtstrahlen, die unser Auge treffen, eine gerade Linie beschreiben. Am befriedigendsten ist noch die Erklärung, die den Begriff eines starren Körpers benutzt. Denkt man sich einen solchen Körper so bewegt (gedreht), daß zwei seiner Punkte in Ruhe bleiben, so bleiben zugleich unendlich viele zwischen diesen liegende Punkte des Körpers in Ruhe und der Inbegriff dieser Punkte bildet eine Linie, die man als die Verbindungsgerade der beiden festgehaltenen Punkte bezeichnet. Über die zahllosen mißglückten Versuche zur Erklärung der Geraden vgl. die im Artikel »Ebene« angeführten Werke.

Von je drei Punkten, die auf einer Geraden liegen, sagt man: sie liegen in gerader Linie. Jeder Punkt A einer Geraden zerlegt diese in zwei Halbgerade oder Strahlen; liegt B auf der einen dieser Halbgeraden, C auf der andern, so sagt man, daß B und C von A aus gesehen in entgegengesetzten Richtungen liegen. Ebenso unterscheidet man überhaupt auf der Geraden zwei einander entgegengesetzte Richtungen, wie man im gewöhnlichen Leben die Richtungen von links nach rechts und von rechts nach links unterscheidet. Aber der Unterschied dieser Richtungen fällt weg, wenn die G. als Teil der Ebene oder des Raumes betrachtet wird, denn man kann die G. um irgend einen ihrer Punkte, den man festhält, so drehen oder umlegen, daß sie mit sich selbst zur Deckung kommt, während ihre beiden Richtungen vertauscht werden (Umkehrbarkeit der G.). Das von zwei Punkten A und B begrenzte Stück einer G. heißt Strecke, es mißt den Abstand zwischen A und B. Je nachdem man sich diese Strecke in der Richtung von A nach L oder von B nach A durchlaufen denkt, bezeichnet man diese Strecke mit AB oder mit BA und sagt, die Strecken AB und BA haben gleiche Länge, aber verschiedene Richtung oder verschiedenen Sinn. Zwei G., die derselben Ebene angehören, schneiden einander entweder in einem Punkt oder gar nicht; im letztern Falle sagt man: sie sind parallel oder sie schneiden einander im Unendlichen. Zwei G. im Raume, die nicht in einer Ebene enthalten sind, heißen windschief. – Geradlinig heißt jede Figur, die aus Geraden besteht.[620]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 620-621.
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