Lucius Annäus Seneca

[224] Lucius Annäus Seneca, der Sohn eines Rhetors aus Corduba in Spanien, geb. im 2. Jahre nach Christi Geburt, wurde in Rom erzogen. Er blühte unter der Regierung des Nero, und genoß die gefährliche [224] Ehre, der Lehrer dieses unwürdigen Kaisers zu sein. Nero wurde seines längern Umgangs zuletzt überdrüßig, und gab ihm den Befehl, sich eine Todesart zu wählen. Die Ursache dieses schändlichen Gebots mußte eine angebliche Verschwörung abgeben, woran Seneca Theil haben sollte. Seneca ließ sich (im Jahre 66 nach Chr. Geb.) die Adern öffnen, weil er diese Todesart für die leichteste hielt. Durch die verschiedenen Staatsämter, die er ehemahls bekleidet, und durch die Freigebigkeit des Kaisers im Anfange seiner Bekanntschaft mit ihm hatte er sich ein ansehnliches Vermögen und einen Ueberfluß an Kostbarkeiten erworben; seine Feinde nahmen daher Gelegenheit, ihn zu verläumden, wenn er als Philosoph über die Vortheile der Armuth, über die Verachtung irdischer Güter und über die Enthaltsamkeit des Weisen sprach und Grundsätze der strengsten Moral vortrug. Wir besitzen noch einen ansehnlichen Theil seiner Schriften über verschiedene Gegenstände der Philosophie und Moral. Man bewundert darin eine Menge neuer und überraschender Gedanken und das Bestreben des Schriftstellers, seinen Lesern überall Gefühl für Moral und Sittlichkeit beizubringen; aber die zu gekünstelte Schreibart, die ermüdenden Antithesen und das ängstliche Bestreben, immer etwas Neues und Glänzendes zu sagen, schwächen den ersten Eindruck bei einer wiederhohlten Lectüre ungemein. Man hat auch eine Anzahl Römischer Trauerspiele – den einzigen Ueberrest von der Lateinischen tragischen Schaubühne – die Senecaʼs Namen führen: es sind ihrer zehn; allein nur wenige davon sind echt; und diese haben dieselben Schönheiten und Fehler, die man in den übrigen Schriften dieses Weltweisen antrifft (ob man gleich noch nicht einmahl einig ist, ob sie ihm allein oder auch seinem Vater zuzuschreiben sind). Im Ganzen aber läßt sich von diesen Trauerspielen eben nicht auf das vortheilhafteste über die tragische Kunst der Römer urtheilen: sie sind den Griechischen Tragödien nachgearbeitet, aber in keiner Hinsicht ihnen an die Seite zu stellen; Geschmack, wahre poetische Begeisterung – kurz, wahres dramatisches Genie muß man ihnen absprechen. Vielleicht hatte sie auch ihr Verfasser gar nicht fürs Theater, sondern [225] mehr zu rhetorischen Uebungen, wozu er die dramatische Form wählte, bestimmt.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 5. Amsterdam 1809, S. 224-226.
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