Selbstmord

[162] Selbstmord (lat. suicidium, autochiria). Bei dem Menschen als vernünftigem Wesen muß sich die natürliche Selbstliebe (s.d.) zu der Überzeugung gestalten, daß es eine dem Menschen zukommende Pflicht sei, sein Wohl und die alleinige Quelle desselben, sein Leben, zu erhalten. Das irdische Leben darf nur dann von dem sittlichen Menschen aufgegeben werden, wenn sein höheres geistiges Dasein durch die Erhaltung des irdischen Lebens gefährdet ist. Er wird sich also für die sittlichen Mächte, welche die Herrschaft des Geistes ausdrücken, für Vaterland, Staat, Religion, Tugend, wenn es sein muß, aufopfern, einen freiwilligen Tod sterben, aber nicht, um irgend ein irdisches Übel zu vermeiden, aus Verzweiflung oder Kleinmuth das irdische Leben als eine lästige Bürde von sich werfen; dies ist stets unvernünftig, unsittlich und sündig. Eine solche willkürliche Entäußerung des Lebens ist Selbstmord. Ein seiner oder subtiler Selbstmord, der nicht minder sündhaft als der grobe, ist aber auch jede willkürliche Verkürzung des Lebens, um sinnlichen Genüssen mit Gefahr der Gesundheit zu fröhnen. Der unfreiwillige Selbstmord findet dann statt, wenn sich der Mensch in Folge einer Geisteskrankheit des Lebens beraubt, welche ihn unzurechnungsfähig macht; ein solcher Unglücklicher wird nur zu bedauern sein, während der wirkliche Selbstmörder stets als ein sittlich verwerflicher Mensch erscheint. In allen Fällen ziemt es indeß dem Menschen, mild über den einzelnen Selbstmörder zu urtheilen, und mit Recht ist daher unter uns die ehemals herrschende Sitte, Selbstmörder noch durch unehrliches Begräbniß an dem Leichnam zu strafen, abgekommen. Wie wir nämlich in keines Menschen Brust zu lesen vermögen, so wissen wir auch in keinem Falle des Selbstmordes, ob sich der Selbstmörder in einem krankhaften Zustande befand, welcher ihn unzurechnungsfähig machte oder nicht; ob er sich nicht nur darum, seiner Überzeugung nach, das Leben nahm, um sein höheres, geistiges Dasein zu retten, das ihm in den Widerwärtigkeiten oder in dem Sündenschmuz des irdischen Lebens rettungslos unterzugehen schien.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 162.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: