Talion

[355] Talion bedeutet so viel wie Wiedervergeltung, jus talionis (lat) das Recht der Wiedervergeltung, welches aller Gesetzgebung ursprünglich zu Grunde liegt. Dieses Recht selbst begründet sich auf das natürliche Gefühl, daß vermöge der geistigen Würde des Menschen alle Einzelnen gleichberechtigt sind und daß daher ein Jeder schuldig ist, dem Andern Dasselbe zu leisten, was er von ihm verlangt, und Dasselbe zu dulden, was er dem Andern angethan. Wenn die Mosaische Gesetzgebung den Grundsatz aufstellt: Auge um Auge, Zahn um Zahn, so spricht sie damit das jus talionis aus. Das Strafrecht ist die Ausführung der Wiedervergeltung, wenn sie der Staat übernimmt, damit sie den Charakter der Rache verliert, welchen sie an sich hat, so lange es dem Einzelnen überlassen bleibt, das jus talionis zu üben. Die Richter üben das Wiedervergeltungsrecht aber insofern aus, als sie den Schaden, welcher dem Andern durch ein Verbrechen angethan worden ist, nach dem Werthe desselben bemessen und nach diesem Werthe die Strafe bestimmen. Der Dieb z.B., welcher selbst nichts besitzt, kann nicht wieder in seinem Eigenthume geschmälert werden, wol aber [355] kann er seiner Freiheit mehr oder weniger beraubt werden, welches eine angemessene Strafe ist, da er, indem er einen Andern beraubte, diesen auch in seiner Freiheit beschränkte, denn dos Eigenthum des Einzelnen macht das Gebiet aus, in welchem derselbe seine Freiheit unbeschränkt ausüben kann, und wer ihn seines Eigenthums beraubt, der beschränkt ihn daher in der Ausübung seiner Freiheit.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 355-356.
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