Unschuld

[266] Unschuld, der Engel an der Pforte des Himmels, der goldene Hüter jener reinen, innerlichen Welt, in deren Allerheiligstem die Seele, noch unberührt von den Lüften des niedern Thales, die Düfte des göttlichen Aethers trinkt. Da vereint sich Morgen- und Abendroth um die reinen Schläfe zu einem purpurnen Heiligenkranz; da wird Sein, Denken und Träumen zu einem seligen Vollgefühle der Einfachheit, Unbefangenheit und Kindlichkeit. Wie süß spricht die U. aus den reinen Augensternen, von der heiteren Stirn, den lächelnden Wangen, dem sinnigen Mund, aus der ganzen demüthig-frommen und wiederum so harmlos tändelnden Gestalt! Das ist die Sprache reiner Höhen; das ist ein bezaubernder Anklang aus dem harmonischen Triumphgesang, wie ihn die Gemeinde der Heiligen singt über den Sternen; das klingt wie Aeolusharfentöne aus einer andern Welt! Ach, ein güldener Schatz ist die U.; ein Schatz, wie ihn der Ocean nicht birgt mit allen seinen Perlen und diamantenen Tiefen. Ein güldener Schatz,- der aber einmal[266] verloren, nie wiederkehrt. Ganze Jahrhunderte verzehrte der Gram nach dem verlorenen Gute; ganze Völker stürzten sich in Kampf und Tod; die Herren des Menschengeschlechts jagten, schmachtend nach Genuß und im Genusse verschmachtend, durch alle Lande der Erde, – nur um wiederzuerobern das verlorene Paradies der kindlichen U.! Darum rief voll göttlicher Weisheit, im tiefsten Gefühl der wahren Größe, der göttliche Meister aus: »Lasset die Kindlein zu mir kommen; denn ihnen ist das Himmelreich!«

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 266-267.
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