Siegel, Carl

[676] Siegel, Carl, geb. 1872 in Wien, Privatdozent daselbst.

Genetisch-kritizistischer Standpunkt auf psychologischer Grundlage (Kritischer Empirismus), verbunden mit kritischem Realismus. Im Erkennen ist die Analyse der primäre Vorgang, dem erst die Synthese folgt; Trennen und Verbinden sind die fundamentalen Bewußtseinsakte. Das Denken ist eine Willensfunktion, das Urteil ein »theoretischer Entschluß«. Das allgemeine A priori des Erkennens ist die Apperzeptionseinheit oder die Form der Kontinuität. Dieses A priori liegt in den Anschauungsformen und in den Kategorien, die sich in Wechselwirkung mit der Erfahrung als Denkmittel zu deren Objektivierung entwickeln. Der Kausalbegriff ist ein Komplement des Dingbegriffes, ein Ausdruck der Relativität alles Geschehens, welches ein Grad einer ursprünglichen Gesamtheit ist, welche Ursachen und Wirkung verbindet. Der Raum ist eine durch die Natur des menschlichen Verstandes mitbestimmte, verstandesmäßige Form der empirisch gegebenen Anschauung. Apriorisch ist nur der Anschauungsraum, nicht der begriffliche Raum; ersterer ist weder euklidisch noch nichteuklidisch, letzterer kann als Gedankliches beides sein. – Das Organische ist nicht durch eine Lebenskraft u. dgl., aber doch vitalistisch zu erklären; das organische Geschehen läßt sich nämlich nicht restlos auf mechanische Gesetze zurückführen, der individual-historische Faktor, die »Konstellation« spielt hier eine Rolle.

SCHRIFTEN: Die Entwicklung der Raumvorstellung, 1899. – Zur Psychol. u. Theorie der Erkenntnis, 1903. – Herder als Philosoph, 1908. – Versuch einer empiristischen Darstellung der räumlichen Grundbegriffe u. geometrischen Grundbegriffe. Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos., 24. Bd. – Naturgesetzlichkeit u. Vitalismus, Wissensch. Beilage der Philos. Gesellschaft zu Wien, 1910. – Zeitschr. f. Philos., 1910. – Von der Natur des Denkens, 1911 (Progr. d. Wiener Mädchengymnas.), u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 676.
Lizenz: