Kultur der Thinitenzeit. Die Kunst

[145] 216. Über vierhundert Jahre (etwa 3300-2900) haben die Herrscherhäuser aus Thinis auf dem Thron des Horus gesessen. Wenn sich von ihrer Geschichte nur einzelne Momente erkennen lassen und namentlich die zweite Dynastie für uns noch fast ganz dunkel ist, so treten die Kultur und die Zustände des Reichs greifbar genug hervor. Die Denkmäler haben die überraschende Tatsache enthüllt, daß die bei allen Wandlungen der Folgezeit unverändert gebliebenen Grundformen der aegyptischen Kultur und des aegyptischen Staats größtenteils schon unter den ersten Königen der ersten Dynastie ihre spätere Gestalt erhalten haben. Es ist bereits erwähnt, daß unter König Chent (§ 211) die ältere Tracht und der ältere, auf den ersten Blick fast unaegyptisch erscheinende Stil den von da an herrschenden Formen Platz macht. Besonders deutlich tritt das an einem an der Leiche seiner Gemahlin gefundenen Armband hervor: die Horusfiguren von Türkis, die nicht umgearbeitet werden konnten, zeigen nach alter Weise einen hockenden Falken, die von Gold einen aufgerichteten und stilisierten. In derselben Weise werden die Figuren durchweg schlanker, und die Gesetze für die Umrißzeichnungen sind festgesetzt – z.B. müssen Kopf und Beine im Profil gezeichnet werden, während Augen und Brust von vorn gesehen werden, eine korrekt gezeichnete Figur soll nach rechts sehen, ein vorgestreckter Arm oder Bein immer der vom Beschauer abgewandte sein, u.a. Trotz des unverkennbaren Archaismus sieht z.B. Usaphais auf seinen Elfenbeintafeln schon ganz aus wie die späteren Königsbilder. Gleichzeitig wird die alte Haar- und Barttracht aufgegeben und der Kopf glatt rasiert. Der König und die vornehme Welt tragen fortan eine Perücke-künstliche Haarlocken haben sich im Grabe des Chent gefunden-und einen wie es scheint künstlichen Spitzbart am Kinn (§ 167); bei den Bauern dagegen hat sich die alte Tracht noch lange erhalten. Die alte Mannigfaltigkeit der Gefäße aus Stein und Ton schwindet und macht wenigen einfachen Typen Platz; ebenso kommen die Schminksteine jetzt außer Gebrauch, wenngleich das Schminken der Augen beibehalten wird.


Der Schmuck aus dem Grabe des Chent: R. T. II 1. Locken: Abydos I 4 (ebenso z.B. in Berlin). Bild des Chent auf dem Siegel R. T. II 15, 108, des Usaphais R. T. I 10, 13. 14 und auf der Siegestafel § 212. – Eine weitere Entwicklung hat natürlich überall stattgefunden; aber im allgemeinen zeigt sich, daß wir auf diesem Gebiet früher zu viel postuliert und konstruiert haben, und vieles, was man noch vor wenigen Jahren für ganz spät hielt, erweist sich jetzt als uralt.


217. Trotz dieser Regeln kann von einer Erstarrung keine Rede sein; vielmehr herrscht in den Überresten der alten Zeit ein reges Leben, dem man die Freude anmerkt über das, was man leisten und schaffen kann. Während in der Masse des Volks noch der ältere Stil fortlebt und die aus den gewöhnlichen Gräbern stammenden Fundstücke noch lange den Charakter der »vorgeschichtlichen« Objekte bewahren, schreitet die Entwicklung am Hof ständig weiter und dringt vom König zunächst zu den Magnaten, und dann langsam weiter in die tieferen Schichten (vgl. § 173). So erklärt sich das Sprunghafte, das in den Funden oft die deutlich erkennbare [147] Kontinuität der Entwicklung zu durchbrechen scheint: unter einem mächtigen Herrscher wird zum ersten Male eine Neuerung versucht, aber seine Nachfolger haben nicht die Mittel oder das Interesse sie festzuhalten, bis dann ein späterer das alte Vorbild wieder aufnimmt und aufs neue darüber hinausgeht. – Am anschaulichsten tritt das in den Gräbern hervor. Weitaus die meisten Aegypter sind unter den ersten Dynastien noch in den alten einfachen Erdgräbern beigesetzt, oft unter großen Tondeckeln geborgen; in besseren Gräbern wird der Schacht mit Luftziegeln ausgemauert. Aber die Hofbeamten liegen in gemauerten Zellen rings um ihren Herrn, und dieser hat bereits eine große Grabkammer. Gleich zu Anfang tritt uns imposant das Grab des Menes in Negade entgegen: ein freistehender Bau, dessen Kammern von einem massiven Ziegelwall umschlossen sind, der außen mit Nachbildungen der Portale des Königspalastes dekoriert ist. Die Gräber von Abydos dagegen zeigen viel einfachere Formen; sie sind zunächst nur große, in die Erde gemauerte, mit Nischen ausgestattete Grabkammern, die mit Holz ausgelegt und mit großen Balken überdeckt sind; darüber ist ein Grabhügel aus Wüstensand aufgetürmt. Bei Usaphais findet sich zum ersten Male ein Steinpflaster von Granit und eine in die Kammer hinabführende Treppe; und diese hat sich bei seinen Nachfolgern aus der ersten Dynastie erhalten, während Stein Jahrhunderte lang nicht wieder verwendet wird. Perjebsen hat dann wieder ein ganz einfaches Grab. Dagegen bezeichnet Cha'sechemui einen wesentlichen Fortschritt: er hat sich eine Kammer von Stein gebaut, die von Korridoren mit Nischen aus Ziegeln für seine Hofleute umgeben ist. Dem entsprechen seine Steintüren in Hierakonpolis (§ 215); auch der Palermostein erwähnt in dieser Zeit (Zl. 5, 2) die Errichtung eines Steinbaus. Aber Epoche hat erst die Regierung Ẕosers gemacht: hier wird der freistehende Ziegelbau des Menes mit der unterirdischen Grabkammer von Abydos durch eine große Treppe verbunden und bildet unter der dritten Dynastie den Typus der vornehmen Privatgräber, während der König sich [148] ein gewaltiges Steingrab auftürmte, aus dem sich die Form der Pyramide entwickelt (§ 230). – In dieser Folge der Grabformen lernen wir zugleich die Fortschritte der Architektur kennen. Die ältere Zeit ist noch ganz vom Ziegel- und Holzbau beherrscht, und Bewunderung erregen die gewaltigen, zum Teil wohl schon aus Syrien bezogenen, Holzbalken, die, von Pfeilern gestützt, die großen Kammern überspannten und die Massen des darauf geschütteten Sandes trugen. Unter der dritten Dynastie finden wir bei den Treppen und Gängen auch die Anfänge des Bogenbaus. Die Steinarchitektur dagegen, die für unsere Vorstellung mit aegyptischen Bauten untrennbar verbunden scheint, hat sich erst ganz langsam, ja zaghaft entwickelt. Befördert wird sie dadurch, daß das Holz selten und der Lehm meist schlecht ist; aber sie setzt eine viel größere Anspannung von Menschenkräften voraus, und legt daher zugleich für die steigende Entwicklung der staatlichen Organisation Zeugnis ab.


Für Negade: BORCHARDT und DÖRPFELD, ÄZ. 36, 87ff.; für Abydos; PETRIE, Royal Tombs; für die 3. Dynastie GARSTANG, Mahâsna and Bêt Khallâf, und vor allem GARSTANG, Tombs of the third dynasty. – Für die Gräber des Mittelstands und der ärmeren Bevölkerung sind jetzt vor allem die Nekropolen von Ṭura (§ 207 A.) und Naga ed Dêr (§ 169 A.) hinzugekommen [über REISNERS Ausgrabungen auf dem Friedhof von Gize liegen bisher nur kurze Notizen vor]. Auch hier zeigt sich durchweg der charakteristische Einschnitt mit dem Anfang der 1. Dynastie: die Schminktafeln verschwinden, die Tonware degeneriert, weil die Steinware ihren Höhepunkt erreicht, die mannigfachen älteren Gefäßformen machen wenigen einfachen Platz. An Stelle der einfachen Sandgruben und der kleinen Ziegelgräber treten größere mit Kammern für die Beigaben, etwa mit der 3. Dynastie kommt auch die Überwölbung auf, ebenso das Schachtgrab mit hinabführender Treppe. – In Unternubien dagegen hat sich die alte Kultur stabil erhalten (§ 165 a A.), so daß sich dieses Gebiet langsam von Aegypten scheidet und rückständig wird.


218. In den Gräbern alten Stils und den Volksgräbern findet sich keine Inschrift. Am Hof dagegen ist es seit Menes Brauch, »den Namen des Toten lebendig zu machen« und dadurch seine persönliche Fortexistenz des weiteren zu sichern, [149] indem man ihn auf eine Steintafel schreibt. Das gilt zunächst vom König selbst, der sich zugleich eine große Zahl von Dienern für seinen Geist (ka) bestellt, die ihm in regelmäßigem Kultus Totenopfer bringen. Aber auch seine Umgebung will er im Jenseits um sich haben, und so wird diese neben ihm bestattet und auch ihr die Fortdauer ihres Namens gesichert. So sind offenbar von jetzt an die für den König bestimmten Riten auch bei ihrer Bestattung vollzogen und die zugehörigen Zaubertexte (§ 205) von dem dazu bestellten »Rezitator« (chriḥeb) verlesen worden. Aber während die Grabstelen der Könige sauber ausgeführt werden und vor allem die des Königs Ẕet (auch die der Königin Meritneit) ein bewunderungswürdiges Beispiel alter Steinhauerarbeit und Hieroglyphenzeichnung bildet, erhalten die Beamten und die Frauen des Harems nur ganz rohe kleine Kalksteinplatten mit rasch und schlecht gemeißelten, oft auch nur eingeritzten Hieroglyphen; so wird der Unterschied der Stellung wie im Diesseits so auch im Jenseits charakteristisch zum Ausdruck gebracht. Wo ein kleines Bild des Toten darauf angebracht ist, ist es eben so roh gezeichnet; nur bei den Zwergen und Hunden-denn auch diese werden unsterblich gemacht-sind wenigstens die Umrisse charakteristisch gebildet. Auch die sehr verschiedene Ausführung der Inschriften und Zeichnungen auf den Steingefäßen, Siegelzylindern, Platten von Elfenbein und Ebenholz zeigt, daß die Kunst und der Künstler noch etwas Rares und Kostbares war, das man nicht leichtfertig verschwenden durfte. In kleinen, aus Elfenbein geschnitzten Figuren zeigt sich eine scharfe Naturbeobachtung, die an die Schöpfungen der palaeolithischen Zeit im Magdalénien (§ 597) erinnert. So stellt eine kleine Königsstatuette den betagten Herrscher mit einem Realismus und, trotz mancher Fehler (z.B. dem viel zu groß geratenen Ohr), mit einer Naturtreue dar, wie man später den Gott in Königsgestalt nicht mehr gebildet hat. Gleichartig sind andere kleine Elfenbeinfiguren von Frauen, die ein Kind auf dem Arm tragen. Daran reihen sich die sonstigen Arbeiten der Kleinkunst, die [150] prächtigen Schnitzereien der Möbel und Schmuckkästen von Elfenbein, der Frauenschmuck aus dem Grabe des Chent (§ 216), die Steinwerkzeuge, die mit bewunderungswürdiger Technik gearbeiteten Gefäße aus hartem Stein und Alabaster. Auch Gefäße und Figuren von buntem glasiertem Ton (Fayence) vermag man schon herzustellen. Dagegen fallen die Versuche, menschliche Figuren in Stein nachzubilden, noch lange sehr unbeholfen aus; zu ihrer Herstellung standen eben nur Steinwerkzeuge und Sand zu Gebote. Allmählich wagt man, dabei zu etwas größeren Dimensionen überzugehen. Unter der zweiten Dynastie, bei den Statuetten des Cha'sechem aus Kalkstein und Schiefer (§ 214), ist man auch dieser Schwierigkeiten schon einigermaßen Herr geworden; die Haltung der sitzenden Figuren ist allerdings sehr steif und keineswegs fehlerfrei, aber die Modellierung des jugendlichen ernsten Gesichts, das deutlich Porträtzüge hat, ist gut gelungen. Um so unbeholfener sind dagegen noch die ersten Versuche ausgefallen, auch das härteste Gestein für Statuen zu verwerten, z.B. die kleine knieende Statue eines Beamten aus schwarzem Granit, auf dessen Schulter die Namen der ersten drei Könige der zweiten Dynastie stehen (§ 213 A.).


Grabstelen von Zwergen: Royal Tombs I 35, 36. 37. II 28, 58 (CAPART p. 247). Abydos I 4, 11. Königsstatuette: Abydos II 2, 13. CAPART p. 154 [die Wiedergabe ist, wie das Original im British Museum zeigt, sehr unzureichend und durch die künstlichen Beleuchtungseffekte irreführend]; vgl. die übrigen Elfenbeinfiguren aus dem ältesten Tempel in Abydos II und bei v. BISSING, Les débuts de la statuaire en Egypte, rev. archéol. 1910, p. 255 und 259. Ein auffallend derbes Modell eines Königskopfs wahrscheinlich aus dieser Zeit bei PETRIE, Migrations, J. of the Anthropological Institute XXXVI, 1906, pl. XIX. Eine primitive knieende Kalksteinstatue eines Beamten (noch mit Bart): Hierakonpolis pl. 1; 2, 1 (CAPART p. 249); ferner 57; gleichartig unbeholfen sind dann in Granit außer der angeführten die des Meten (Anfang der 4. Dynastie) u.a.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 145-151.
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