Die semitischen Stämme und ihre Organisation

[387] 336. Die Volksstämme, welche der Welt südlich vom Tauros ihre Gestalt gegeben haben, fassen wir unter dem aus der Völkertafel der Genesis abgeleiteten Namen Semiten zusammen. Sie bilden ethnographisch eine enggeschlossene Einheit. In Charakter und geistiger Veranlagung zeigen die Semiten eine scharf ausgeprägte Eigenart, die sie bestimmt von allen anderen Völkern scheidet. Ihre Sprachen sind aufs engste verwandt und nicht sowohl selbständige Sprachzweige, wie die großen Gruppen der indogermanischen Sprache, sondern eher Dialekte einer einzigen Sprachgruppe oder vielmehr verschiedene Entwicklungsstufen der im wesentlichen sowohl in ihrem grammatischen Bau wie in ihrem Wortschatz einheitlichen semitischen Sprache. Aber auch physisch ist der semitische Typus ein einheitlicher, der uns bereits in den ältesten Denkmälern eben so ausgeprägt entgegentritt wie gegenwärtig, wenn er auch bei den seßhaft gewordenen Semiten Palaestinas, Syriens und Assyriens durch nordische (kleinasiatisch-armenische) Elemente variiert ist (vgl. § 330 A.). Am reinsten tritt er uns in Arabien entgegen; und ebenso hat sich hier der Lautbestand und zum Teil auch der grammatische Bau der semitischen Sprache bis auf die Gegenwart am reinsten und der Wortschatz am vollständigsten erhalten, wenn es daneben selbstverständlich auch hier so wenig wie überall im Leben der Sprache an Neubildungen fehlt. Die Sprachen der seßhaften Semiten zeigen dem gegenüber überall einen starken und ständig fortschreitenden lautlichen Verfall und einen Verlust an dem ursprünglichen Wortschatz und grammatischen Bau, der durch Neubildungen keineswegs völlig ausgeglichen wird; und zwar tritt uns diese lautliche Zersetzung am stärksten gerade bei dem geschichtlich ältesten semitischen Dialekt, dem babylonischen (akkadischen), entgegen. [387] Das viel später auftretende Hebraeische weist, entsprechend dem erst vor unseren Augen sich vollziehenden Übergang der Bevölkerung zu voller Seßhaftigkeit, einen weit reineren Lautbestand auf (der in der hebraeischen Schrift nur teilweise Ausdruck gefunden hat), während das Phoenikische und vollends das Aramaeische wieder eine weit stärkere Abschleifung zeigen; und der gleiche Prozeß wiederholt sich dann bei denjenigen arabischen Stämmen, die in den Kulturländern seßhaft geworden sind. Die aus diesen Tatsachen erschlossene Annahme, daß die arabische Wüste als die Heimat der Semiten zu betrachten ist, wird durch ihre Geschichte durchweg bestätigt; und die gesamte geistige Eigenart der Semiten, ihre Denkweise, ihre Religion, ihre staatlichen Institutionen erklären sich aus den Lebensbedingungen eines Wüstenvolks. So sind alle seßhaften Semiten der Kulturländer als Ablagerungen der Wüstenstämme Arabiens zu betrachten, die sich schichtweise ablösen. Dies Andrängen der Wüstenstämme gegen das Kulturland vollzieht sich ununterbrochen, oft in langsamer, Jahrhunderte umfassender Entwicklung, die sich in lauter unscheinbaren Einzelvorgängen abspielt, wie bei dem Vordringen der Araber (im engeren Sinne) in der persischen, hellenistischen und römischen Zeit, gelegentlich im Zaum gehalten, ja zurückgedrängt durch eine widerstandsfähige staatliche Organisation-so in der Gegenwart und im letzten Jahrhundert bei der Zurückdrängung der Wahhabiten –, oft aber in plötzlichen großen Invasionen sich entladend, wie der der Aramaeer und Hebraeer im vierzehnten Jahrhundert und vorher der der Amoriter oder der der Araber im Islâm. Noch früher, in geschichtlich nicht mehr greifbarer Zeit, mag in ähnlicher Weise die Invasion der hamitischen Stämme in Nordafrika von den stammverwandten Semiten Asiens ausgegangen sein (§ 166); zeigt doch schon das älteste Aegyptisch gegenüber dem Semitischen eine starke lautliche Zersetzung und grammatische Umwandlung. Doch entziehen sich diese Vorgänge bis jetzt wenigstens der geschichtlichen Erkenntnis; und ebenso kann die Frage wohl aufgeworfen, aber [388] nicht beantwortet werden, ob die Vorfahren der Semiten in noch früherer Zeit einmal aus anderen Gebieten in die Wüste gezogen und ob sie mit anderen Stämmen der kaukasischen Rasse sprachlich und physisch verwandt sind.


Daß Arabien die Heimat der Semiten ist, hat zuerst, ausgehend von der Theorie über Bildung und geschichtliche Entwicklung der Staaten, welche IBN CHALDÛN (§ 42) aus der Geschichte der islamischen Völker abstrahiert hat, A. SPRENGER mit Entschiedenheit ausgesprochen: Leben und Lehre des Moḥammad I 241ff.; Die Alte Geographie Arabiens, 1875 [ebenso EB. SCHRADER, ZDMG. XXVII; DE GOEJE, Het Vaterland der semitischen Volken, 1882 u.a.]. Jetzt ist diese Auffassung wohl ziemlich allgemein zur Anerkennung gelangt [wenn auch GUIDI, Atti della R. Ac. dei Lincei, 1873, dem JACOB, Altarab. Beduinenleben 28 folgt, für das Euphratgebiet eingetreten ist und NÖLDEKE, Die semitischen Sprachen, 1887, an Nordafrika denkt; HOMMEL hat seine früheren Ansichten (Namen der Säugetiere bei den Südsemiten, 1879) jetzt zurückgezogen: Grundriß der Geogr. u. Gesch. d. alten Orients, 2. Aufl. S. 80]. Die Schichtung der verschiedenen semitischen Ablagerungen hat vor allem WINCKLER scharf betont, der namentlich, im Anschluß an die von den Amarnabriefen gegebenen Aufschlüsse, zuerst richtig erkannt hat, daß die Aramaeer erst seit der Mitte des 2. Jahrtausends in die Kulturländer eingedrungen sind; vgl. auch meine Israeliten und ihre Nachbarstämme 235ff. Die naiven Versuche, in den Sagen der Genesis Aufschlüsse über diese Fragen zu finden, bedürfen jetzt keiner Widerlegung mehr; der Glaube, Armenien oder gar die Kaukasusländer seien die Urheimat der Semiten [der auch HEHNS schönes Buch: Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien, entstellt] entbehrt jedes Schattens von Begründung. Die weiteren Fragen, wann die Urahnen der Semiten nach Arabien gekommen sind, und nun gar die nach einer etwaigen Sprachverwandtschaft zwischen Indogermanen und den hamitisch-semitischen Völkern, d.h. mit anderen Worten die Frage nach dem Ursitz und der Verbreitung des Menschengeschlechts, liegen jenseits der Grenzen geschichtlicher Erkenntnis und sind daher für den Historiker völlig irrelevant. Es wird mitunter verkannt, daß die Frage nach dem Ursitz der Semiten ihrem Wesen nach ganz andersartig ist: bei ihr handelt es sich nicht um die geschichtlich gleichgültige Frage, ob etwa im Jahre 5000 v. Chr. Semiten in Arabien gesessen haben, sondern um die Frage, wie die Semiten nach Syrien und in die Euphratländer gekommen sind; und das ist ein geschichtlicher Prozeß, der sich größtenteils innerhalb des geschichtlich erkennbaren Zeitraums vollzieht und daher auch geschichtlich begriffen werden muß. – Der Konsonantenbestand des Semitischen liegt bekanntlich am vollständigsten [389] bei den Sabaeern vor; das Schriftarabische hat bereits einen der vielen s-Laute verloren, und im Aethiopischen vollzieht sich der weitere Rückgang des Konsonantismus vor unseren Augen. Die Festsetzung südarabischer Stämme in Afrika auf dem abessinischen Hochland (Ge'ez, Aethiopien) bildet das Gegenstück zu der Ausbreitung nach Norden. Die nord- und südarabischen Dialekte bilden mit dem Aethiopischen zusammen eine engere Einheit (vor allem durch die plurales fracti charakterisiert), die als »südsemitisch« bezeichnet wird; für die drei Gruppen der nordsemitischen Dialekte, Babylonisch-Assyrisch, Kana-'anaeisch (Hebraeisch, Phoenikisch cet.) und Aramaeisch (Syrisch) ist eine Zusammenfassung zu größeren Gruppen nicht nachgewiesen und vielleicht überhaupt nicht anzunehmen; das Babylonisch-Assyrische scheint am selbständigsten dazustehen. An Übergängen, auch zwischen nord- und südsemitisch, hat es niemals gefehlt; die Dialektgrenzen sind keineswegs absolut [vgl. Israel. und ihre Nachbarst. S. 307]. – Der Name »Araber« ist in diesem Abschnitt natürlich rein geographisch gebraucht, als Bezeichnung der in dem gegenwärtig Arabien genannten Lande hausenden Semiten; geschichtlich ist der Arabername (von 'arab, 'araba »Steppe, Wüste«) erst im 1. Jahrtausend v. Chr. allmählich aufgekommen und hat sich vom Norden aus verbreitet.


337. Die äußeren Bedingungen, welche das Leben der semitischen Stämme bestimmen, und die durch den Charakter ihrer Wohnsitze gegebenen Unterschiede haben wir bereits kennen gelernt (§ 333). Innerlich werden die Stämme und in ihnen wieder die größeren und kleineren Gruppen, in die sie zerfallen, wie alle gleichartigen Gebilde zusammengehalten durch die Idee der Blutsgemeinschaft, in der der Zwang der sozialen Ordnung seinen Ausdruck findet. Die erwachsenen, wehrfähigen Männer, aus denen der Verband besteht, bilden eine festgefügte, durch die unverbrüchlichen Satzungen der Sitte und der moralischen und rechtlichen Anschauungen zusammengehaltene Gemeinschaft; und diese Gemeinschaft ist durch das Zusammenleben, in dem sie aufgewachsen sind und das schon die vorhergehenden Generationen verband, unmittelbar gegeben. Ob die Blutsverwandtschaft nach der Abstammung von dem Vater (abû) oder der Mutter (imm, umm) gerechnet wird, ist dabei prinzipiell irrelevant (vgl. § 8ff.); tatsächlich herrscht allgemein die patriarchalische Ehe (bei den Sabaeern in Form der Polyandrie), wenn es auch daneben [390] gerade bei nomadisierenden Stämmen oft genug vorkommt, daß sich ein Einzelner an ein fremdes Weib und deren Stamm zeitweilig oder dauernd anschließt. Die modernen Hypothesen, welche bei den Semiten ursprünglich ein sogenanntes »Mutterrecht« bestehen lassen, stehen im Widerspruch mit allen Tatsachen; umgekehrt wird die Ursprünglichkeit des Patriarchats auch dadurch erwiesen, daß dasselbe Wort 'amm sowohl den Vatersbruder wie den Stammgenossen im allgemeinen und den ganzen Stamm (»Volk«) bezeichnet. Neben der physischen Blutsverwandtschaft steht immer ihr Ersatz durch Blutsverbrüderung und durch Adoption. Auf die Blutsgemeinschaft wird die Verpflichtung jedes Mitglieds des engeren Verbandes begründet, für jeden Blutsverwandten einzustehen, ihn zu schirmen und zu rächen, es sei denn, daß man darein willigt, das vergossene Blut durch Zahlung einer Blutbuße abkaufen zu lassen. Über dieser Schutzbrüderschaft der kleineren Gruppe steht dann, sie ergänzend und erweiternd, der Schirm, den die größeren Verbände gewähren. Die Blutrache ist die allbeherrschende Macht des sittlichen und rechtlichen Lebens, welche den Frieden innerhalb des Verbandes sichert und den Einzelnen Fremden gegenüber beschützt und so ein geregeltes Zusammenleben und einen friedlichen Verkehr ermöglicht gerade in Verhältnissen, wo ein äußerer Zwang völlig undurchführbar wäre. Ihre Ergänzung bildet das Gastrecht, das dem isolierten Fremden, der vorübergehend in Gemeinschaft mit einem Anderen getreten ist, dessen und seines Stammes Schutz sichert. – Jeder Blutsverband, sei er groß oder klein, gilt als Nachkomme eines Ahnen, der meist männlich ist, gelegentlich aber, da der Stamm auch als der Mutterleib (baṭn) aufgefaßt werden kann, auch als ein Weib betrachtet wird; dieser Ahne trägt den Namen, der den Verband als Ganzes, als kollektivischen Singular, bezeichnet. So stellt sich die Gliederung eines Stammes als ein Stammbaum dar, in dem die kleineren Gruppen bis zu den Clans oder Geschlechtern und den zu diesen gehörigen Familien, d.h. den kleinsten zusammenwohnenden Gruppen (arab. dâr »Siedlung«, hebr. bait »Haus« oder bait-abî »Vaterhaus«; [391] auch ahl »Zelt« wird in diesem Sinne gebraucht) hinab in absteigender Folge dem allumfassenden Ahnherrn untergeordnet sind. Gelegentliche oder dauernde Verbindungen eines Stammes mit anderen finden dann wieder in ihrer genealogischen Verbindung und Subsumtion unter einen neuen Ahnen Ausdruck; und an der Spitze steht der Name der ganzen Stammgruppe oder des Volkes, das sich durch Sprache und Sitte und gemeinsame Geschichte anderen, stammfremden gegenüber als eine Einheit empfindet.


Im allgemeinen vgl. § 8ff., namentlich auch über die semitischen Eheformen und die darüber aufgestellten modernen Theorien; speziell sei nochmals auf WELLHAUSEN, Die Ehe bei den Arabern, Nachr. Gött. Ges. 1893, verwiesen. – Die in diesem und den folgenden Paragraphen gegebene Schilderung beruht wesentlich auf den bei den Arabern im Altertum wie in der Gegenwart herrschenden Zuständen (zur Literatur vgl. außer der § 333 A. angeführten vor allem BURCKHARDT, Notes on the Bedouins and Wahâbys, 2 vol., 1831. CH. DOUGHTY, Travels in Arabia Deserta, 2 vol., 1888; ferner z.B. WELLHAUSEN, Medina vor dem Islam, in Skizzen und Vorarbeiten IV. G. JACOB, Altarab. Beduinenleben, 2. Ausgabe 1897); doch treten die gleichen Ordnungen bei den übrigen semitischen Stämmen, von denen wir Kunde haben (vor allem im Alten Testament), überall hervor, und haben sich oft noch in viel weiter fortgeschrittenen Verhältnissen rudimentär erhalten. – In der Regel sind die Namen der Stämme, Clans, Geschlechter usw. von den Personennamen durchaus verschieden [Namen wie Jakob, Joseph, Ephraim, Benjamin sind in Palaestina erst ganz spät als Personennamen verwendet worden]; doch mag es gelegentlich zu allen Zeiten vorgekommen sein, daß ein Verband nach dem Häuptling benannt wird, um den er sich schart, wie das bei den Türken sehr gewöhnlich ist. Dann lebt aber in dem Ahnherrn nicht etwa die Erinnerung an diese geschichtliche Persönlichkeit wei ter, sondern diese ist nach kurzer Frist verschollen, und der eponyme Ahnherr ist auch hier lediglich der unmittelbare Ausdruck für die in der Gegenwart lebendige Einheit des Stammes, und weder eine historische Tradition, noch gar eine poetische Personifikation. Nicht nur die populäre Anschauung beurteilt diese Verhältnisse und die an die Eponymen anknüpfenden Erzählungen ganz falsch, wenn sie den Wüstenstämmen ein gutes Gedächtnis für geschichtliche Ereignisse zuschreibt-genau das Gegenteil ist der Fall –, sondern auch gelehrte Forscher (speziell die alttestamentlichen Theologen) haben vielfach in der gleichen Richtung gesündigt, wenn sie früher die genealogischen Erzählungen des Alten Testaments naiv für geschichtliche Wahrheit [392] nahmen, und gegenwärtig sie durch eine sehr einfache Operation in Geschichte umsetzen, indem sie die Erzählungen vom Ahnherrn als Überlieferung von den Schicksalen des Stammes und z.B. eine Ehe als Vermischung zweier Stämme deuten; sie haben sich die realen Anschauungen, aus denen diese Erzählungen erwachsen sind, nicht klar gemacht. Weiteres darüber in meinem Buch: die Israeliten und ihre Nachbarstämme. – Für die Kritik der pseudohistorischen Nachrichten der Araber und die anschließenden Fragen ist grundlegend NÖLDEKE, Über die Amalekiter und einige andere Nachbarvölker der Israeliten, 1864.


338. Der Besitz der einzelnen Stammgenossen besteht, von dem dürftigen Hausrat, Waffen und Schmuck, und vielleicht einigen geraubten oder im Handel erworbenen Kostbarkeiten abgesehen, bei den Nomaden ausschließlich in Vieh, d.h. Schafen und Ziegen, Eseln und Kamelen; bei den Wohlhabenderen kommen noch erbeutete oder gekaufte Sklaven hinzu. Auch der von Sklavinnen erzeugte Nachwuchs folgt dem Stande der Mutter, wenn er nicht durch Freilassung in den Stand der Schutzbefohlenen eintritt oder durch Adoption in den Stammverband aufgenommen wird. Der Einfluß des einzelnen Mannes in der Gemeinde ist zum Teil von seinen persönlichen Eigenschaften, seiner Tapferkeit und Einsicht abhängig, vor allem aber von den Machtmitteln, die ihm sein Besitz gewährt, und in noch höherem Maße von der Leistungsfähigkeit und dem ererbten Ansehen des engeren Blutsverbandes, des Clans und der Sippe, in denen er steht. Denn der Semit, wie jeder naturwüchsige Mensch, ist durchaus aristokratisch gesinnt; so oft tatsächlich das Herkommen durch einen glücklichen Emporkömmling durchbrochen werden mag, so vererbt sich doch die einmal gewonnene und gefestigte Stellung wie jeder materielle Besitz auf Generationen hinaus auf die Nachkommen. Aber es sind nur Ehrenvorrechte und vielleicht der Anspruch auf Bekleidung der Häuptlingswürde, die dadurch begründet werden; zu einer rechtlichen Scheidung in Geschlechtsstände, herrschende Adlige und beherrschte Nichtadlige, führt die aristokratische Denkweise kaum jemals. Denn gerade durch die Lebensbedingungen der Wüste wird die Ausbildung starker, auf sich selbst ruhender Persönlichkeiten [393]100) in hohem Grade gefördert; daher herrscht innerhalb der Stammgemeinde unter den freien Männern volle Gleichheit. Selbst der Versuch, ein einzelnes widerstrebendes Geschlecht oder Individuum unter den Willen der Mehrheit zu zwingen, würde als unberechtigte Gewaltsamkeit gelten, die zu Blutfehde und Zersprengung des Stammverbandes führt; und auch die Söhne, sobald sie herangewachsen sind, ja oft schon die Knaben haben eine auffallend freie Stellung (§ 12). Dagegen gelten die Töchter lediglich als ein werbender Besitz, teils im eigenen Haushalt, teils durch das Brautgeld (mahr), das der Freier für sie zahlen muß; daher ist ihre Aussetzung oder Tötung (in Arabien durch Begraben gleich nach der Geburt) weit verbreitet. Andrerseits wird das Alter geehrt und seine Lebenserfahrung geachtet; das älteste Glied eines jeden Blutsverbandes hat zugleich seine Leitung und übt die Schutzpflicht über seine Angehörigen aus. Vielfach gehört der Besitz der gesamten Familie und wird von dem Ältesten verwaltet, während die jüngeren Brüder ebenso wie die Kinder von ihm abhängig sind und sein Vieh weiden; bei den Sabaeern hat sich daraus die Polyandrie entwickelt (§ 11 A.). Der Rat der Stammgemeinde besteht daher aus den »Ältesten« (םינקז, Scheiche), die in freier Beratung zusammensitzen und in der Regel die Maßnahmen des Stammes entscheidend bestimmen. Nicht zur Stammgemeinde gehören diejenigen Volksgenossen, welche keinen Eigenbesitz haben und daher auch nicht als Vollfreie gelten können, sondern von der Arbeit für andere leben, teils als Knechte im Dienste einzelner, teils als Handwerker, wie vor allem die Schmiede (Metallarbeiter), aber auch Musikanten, Sänger und Tänzer u.ä. Sie stehen daher auch nicht in den Blutsverbänden; und eine geschlechtliche Vermischung mit ihnen (abgesehen von der Prostitution) gilt als schimpflich und wird vielfach streng bestraft. Sie sind Beisassen (gêr), die als Klienten unter dem Schutz des Stammes stehen wie die Fremden, z.B. flüchtige Totschläger, die bei ihm Zuflucht gefunden haben. Doch können die letzteren, wenn sie daheim angesehen waren, [394] oft auch Aufnahme in den Stamm finden; und nicht selten kommt es vor, daß ein Nomade sich zeitweilig einem fremden Stamm anschließt und dann hier auch eine Ehe auf Zeit eingeht, bei der die Kinder dem Stamm der Mutter zufallen.


Das sehr alte Schema der Gliederung eines Nomadenstammes, welches Gen. 4, 29f. an Lamech angeschlossen wird, scheidet die »Zeltbewohner mit Besitz« und die Musikanten (die wie die homerischen Aoeden den Vollfreien zunächst stehen) als Söhne der Hauptfrau scharf von den Schmieden, den Kindern der zweiten Frau [neben diesen steht eine Tochter Na'ama vielleicht als Repräsentantin der Prostituierten], vgl. meine Israel. S. 218. Die Schmiede bilden bekanntlich auch jetzt in Arabien vielfach eine scharf geschiedene stammartige Kaste, die sich auch im physischen Typus von den Stammgenossen unterscheidet. – Bei den Juden gehören noch in nachexilischer Zeit die Besitzlosen nicht zu den Geschlechtern, sondern sind Beisassen; nur ist hier natürlich der Grundbesitz maßgebend geworden; Grundbesitzer und Krieger ist identisch und heißt ליח רובג, vgl. Entstehung d. Judentums S. 148ff. Israeliten S. 428ff.


339. So ist die Stammverfassung durchweg rechtlich eine sehr lockere republikanische Ordnung, mehr eine freie Föderation kleiner und kleinster selbstherrlicher Gruppen als ein geschlossener Staat (vgl. §§ 6. 25f.). Das Gegengewicht gegen die lose rechtliche Bindung bildet die Wucht der Sitte und die Zwangsgewalt der moralischen Vorstellungen, die in dem Blutrecht und der unbedingten Verpflichtung zum Eintreten für jeden einzelnen Blutsverwandten und für die Gesamtheit der Stammgenossen ihren Ausdruck findet und den Einzelnen gelegentlich vor einen schweren sittlichen Konflikt stellen kann, z.B. wenn die väterlichen Blutsverwandten ('amm), die den rechtlichen Anspruch auf Hilfe haben, im Kampf mit den Verwandten der Mutter (châl) stehen, an die deren Kinder durch ein oft sehr starkes Pietätsverhältnis gefesselt sind. Für die oberste Leitung ist ein Oberhaupt (arab. Emîr) auch im Frieden kaum und im Kriege gar nicht zu entbehren; und daraus kann, namentlich wenn der Stamm halb oder ganz zur Seßhaftigkeit und damit zum Besitz eines festen Gebietes gelangt, die Würde eines Königs (malik) hervorgehen. Zur [395] Zeit Mohammeds ist das Königtum im eigentlichen Arabien selten geworden. In älterer Zeit dagegen, z.B. in den Nachrichten der Assyrer, stehen die Stämme durchweg unter Herrschern oder Königen, wenn auch offenbar immer nur mit sehr bescheidener, durch den Rat der Ältesten eingeschränkter Gewalt; weitverbreitet scheint die Sitte gewesen zu sein, daß die Leitung des Stammes vorwiegend oder dauernd einer Frau aus dem Herrschergeschlecht zusteht (§ 10 A.). Mehrfach, so bei den kana'anaeischen Nomaden (den Edomitern und Israeliten), findet sich eine militärische Organisation des Stammes in Tausendschaften ('eleph), die wieder in Hundertschaften und weiter in Züge zu fünfzig Mann zerfallen. Diese militärische Einheit, die Kompanie, die der spartanischen Pentekostys entspricht, findet sich mehrfach auch bei den Arabern. Im wesentlichen deckt sich offenbar die Tausendschaft mit dem Clan (hebr. mišpâcha), der größten Gruppe von Blutsverwandten innerhalb des Stammes, und ebenso werden die militärischen Unterabteilungen sich an die kleineren Geschlechtsgruppen anlehnen; zugleich aber ist klar, daß in solchen Fällen eine systematische Einteilung vorliegt, die auf einen bestimmten Akt zurückgeht und daher zugleich eine stärkere Ausbildung der Autorität des Stammes voraussetzt.


Über die Tausendschaften cet. und ihr Verhältnis zu den Geschlechtern vgl. meine Israeliten 428ff. 498ff. Das Schema der Einteilung, bis zu Zehnerschaften (= Korporalschaften) hinab, wird Exod. 18, 21. 24 = Deut. 1, 15f. gegeben; vgl. Sam. I 22, 7. Amos 5, 3 u.a. Die Fünfzigerschaft als die militärische Einheit Reg. II 1, 9ff.; nach ihr heißt שומח »gefünfzigert« soviel wie »kriegsmäßig gewaffnet und geordnet« Exod. 13, 18. Jud. 7, 11. Num. 32, 17 = Jos. 1, 14. 4, 12. Dem entspricht arabisch chamîs »Heer«, und sabaeisch םמח als waffenfähige Mannschaft des Stammes (D. H. MÜLLER). Sprachlich könnte das Wort natürlich ebensowohl von dem Singular chamis »fünf« wie von dem Plural »fünfzig« abgeleitet sein; aber da eine militärische Abteilung von fünf Mann undenkbar ist, kann nur die letztere Ableitung richtig sein.


340. Bei den seßhaften Stämmen tritt zu dem Herdenbesitz Eigentum am Boden und vor allem an Dattelpalmen [396] hinzu; die Lebensverhältnisse werden mannigfaltiger, das Bedürfnis nach rechtlicher und staatlicher Ordnung wächst. So können sich hier eine kräftigere Staatsgewalt und ein dauerndes Königtum bilden. Aber daneben bleiben die ursprünglichen Anschauungen und Tendenzen noch lange in Wirksamkeit; und diese Gebiete sind nicht so scharf von den anderen geschieden, weder geographisch noch in den Lebensbedingungen, daß sie nicht ununterbrochen die Einwirkung des nomadischen Stammeslebens erführen. Nicht selten hat sich daher auch in solchen Gebieten selbst bei weit fortgeschrittener Kultur die lockere Stammverfassung erhalten, ja noch gesteigert (§ 6), so in Mekka zur Zeit Mohammeds. – Andrerseits sind den Nomaden die Gefahren wohl bewußt, welche die Seßhaftigkeit ihrer Organisation und Wehrfähigkeit und damit der Selbständigkeit und dem stolzen Unabhängigkeitssinn des Einzelnen bringt. Voll Verachtung sehen sie auf den an seine Scholle gefesselten Bauern und die feigen Städter herab, die sich hinter Mauern zu schützen suchen und einem Herrn als Knechte dienen, sich von den Beduinen ausplündern lassen und ihre Erpressungen durch Geschenke abkaufen. So verlockend die Reichtümer und Genüsse der Kultur sind, so sind sie diesen Preis doch nicht wert. Gelegentlich sind daher bei Beduinenstämmen, die in die Grenzgebiete des Kulturlandes eingedrungen sind, die schwersten Strafbestimmungen auf Ackerbau, Weinpflanzungen, Wohnen in festen Häusern gesetzt, so bei den Nabataeern der Diadochenzeit (Hieronymos von Kardia bei Diod. XIX 94). In religiösem Gewande tritt uns dieselbe Forderung bei dem edomitischen (qainitischen) Clan der Rekabiten in Palaestina (Jerem. 35, 6f.) und überhaupt in der Gestaltung der prophetischen Religion entgegen, und ebenso sind sie in den Anfängen des Islâms sehr lebendig und wirkungsvoll gewesen. Daß dem gegenüber die Beteiligung am Handel und die Eskortierung von Karawanen als ein rühmlicher und einträglicher Erwerbszweig anerkannt wird, ist schon erwähnt (§ 333).

341. So fest im Gegensatz zu der Lockerheit der äußeren Ordnungen und dem Fehlen jeder befehlenden Autorität das [397] innere Gefüge des Stammes ist, so verschiebt sich doch sein Bestand ununterbrochen. Nicht nur einzelne Individuen lösen sich ab, sei es infolge einer Blutfehde, sei es weil der Zufall sie zum Anschluß an andere Stämme führt, als Clienten oder Angeheiratete, sondern auch ganze Geschlechter und Clans; und umgekehrt finden durch den gleichen Prozeß fremde Elemente Aufnahme. Eine äußere Katastrophe, die Niederlage durch Fremde, ein großer Wanderzug, eine Hungersnot oder auch eine unsühnbare innere Fehde kann den Stamm völlig auseinandersprengen. Dann bleiben die kleineren Gruppen, die einzelnen Geschlechter; und sie mögen sich zu neuen Stämmen zusammenschließen oder bei fremden Anschluß suchen. Auch kann der Stamm zu groß werden, um noch eine Einheit zu bleiben, namentlich wenn die Lebensbedingungen sich ändern, z.B. durch Eroberung größerer Gebiete; in der Art sind aus dem éinen israelitischen Stamm die späteren (angeblich zwölf) Stämme als lokale Gruppen hervorgegangen, deren jede mehrere Clans mit ihren Geschlechtern in einem lockeren Verbande umfaßt. Umgekehrt mögen mehrere Stämme sich vorübergehend oder dauernd zu einer Koalition oder zu einem Oberstamm zusammenschließen, wobei dann immer sofort die Fiktion hinzutritt, daß sie aus einer ursprünglichen Einheit hervorgegangen, Nachkommen eines eponymen Ahnen seien. So sind die Stammverbände, die scheinbar und der Idee nach für die Ewigkeit gegründet und gegen alle anderen Menschen durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden sind (§ 35), tatsächlich in ständigem Fluß und Austausch; alle paar Jahrhunderte treffen wir neue Stammnamen, während die alten höchstens noch als verschollene Namen der genealogischen Tradition weiterleben. Eben darauf aber beruht es, daß auch umgekehrt die einzelnen Stämme trotz aller Gegensätze in fortwährendem Austausch mit einander stehen und sich gegenseitig beeinflussen, und so größere Gruppen, Völker, sich bilden, deren Einheit allerdings nur in der Idee besteht, in dem Bewußtsein gemeinsamer Sprache und Sitte, gleichartiger Wohnsitze und geschichtlicher Erlebnisse, aber darum doch im [398] Gegensatz zu anderen Völkern bei großen Bewegungen einmal eine mächtige Wirkung ausüben kann. So sind die großen Volkseinheiten entstanden, die uns in der Geschichte der Semiten entgegentreten, die Kana'anaeer, die Aramaeer und vor allem in späterer Zeit die Araber.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 387-399.
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