Die Erfindung der Schrift

[467] 376. Der entscheidende Schritt zur Begründung einer höheren und dauerhaften Kultur mit festen Traditionen ist auch bei den Sumerern durch die Erfindung der Schrift geschehen; und diese ist zweifellos ihr ausschließliches Eigentum und von den Semiten nicht beeinflußt. Entstanden ist die sumerische Schrift wie die aegyptische und die chinesische aus der bildlichen Darstellung einzelner Gegenstände und Handlungen, die zu Zeichen eines Begriffs, eines Wortes und schließlich einer Lautgruppe, ohne Rücksicht auf die Bedeutung derselben, geworden sind. Auch bei den Sumerern wird die Vorstufe nicht gefehlt haben, welche uns in Aegypten durch einige der alten Schminksteine bekannt geworden ist (§ 201), wo eine Zeichnung einen Hergang symbolisch andeutet und für das Verständnis in Worte umgesetzt werden muß, d.h. zum unvollkommenen Ausdruck von Sätzen dient und so die Erinnerung an bestimmte Vorgänge dauernd festzulegen vermag. Aber [467] bis jetzt sind weder aus diesem noch aus den folgenden Stadien Denkmäler gefunden worden; die ältesten erhaltenen Urkunden zeigen bereits das ausgebildete Schriftsystem. Wenn die grundlegenden Momente in der aegyptischen und der babylonischen Schrift die gleichen sind-das Nebeneinander von ideographischer (begrifflicher) und lautlicher Bedeutung der Zeichen, sowie von Wortzeichen und Silbenzeichen, und die Anwendung von erläuternden Lesezeichen, welche nicht mit ausgesprochen werden18 –, so treten doch von Anfang an zwei charakteristische Unterschiede hervor. Einmal ist die Zahl der Bildzeichen in der sumerischen Schrift sehr viel kleiner als im Aegyptischen, und sie hat viel weniger Mittel gefunden, Abstraktionen und Handlungen symbolisch zu bildlichem Ausdruck zu bringen. Sodann aber hat sie die wirkliche (hieroglyphische) Bilderschrift sehr rasch durch eine Kursive ersetzt. Da man in Babylonien zum Schreiben meist weichen Ton benutzt, in den man die Schriftzeichen mit dem Griffel eindrückt (nur für Weihgeschenke und Königsdenkmäler wird der kostbare Stein verwendet), wandeln sich die Bilder in dieser Kursive in eckige, als Strichen zusammengesetzte Figuren, und zwar um so leichter, da, im Gegensatz zu Aegypten, die Kunst des Zeichnens in Sinear noch in den rohesten Anfängen stand. In Aegypten hat man neben der Kursive (hieratisch) für die monumentale Schrift immer die ursprüngliche Form der sorgfältig, ja künstlerisch ausgeführten Bilder (Hieroglyphen) beibehalten; in Sinear dagegen werden die Hieroglyphen vollständig aufgegeben: die Schriftzeichen sind in scheinbar willkürliche Kombinationen von Strichen19 umgesetzt, in denen das ursprüngliche Bild nur noch eben durchschimmert [468] oder auch garnicht mehr zu erkennen ist. Dieser Unterschied ist nicht nur äußerlich, sondern affiziert zugleich das innere Wesen der Schrift: sie verliert, anders als in Aegypten, allen Zusammenhang mit der bildenden Kunst und führt ein Sonderleben für sich. Dadurch wurde es möglich, zahlreiche neue Schriftzeichen zu erfinden, die keine bildliche Grundlage mehr haben, und so die Lücken des ursprünglichsten Hieroglyphenbestandes auszufüllen. Diese sekundären Schriftzeichen sind teils durch Differenzierung der alten, z.B. durch Einfügung mehrerer Striche, welche die Bedeutung verstärken oder variieren (von den assyrischen Grammatikern als gunû bezeichnet), teils durch Kombination mehrerer Zeichen entstanden. Diese Kombinationen beruhen vielfach auf naiven Spielereien mit den Begriffen oder dem lautlichen Klang der zu schreibenden Worte. Bei Eigennamen behilft man sich sehr oft mit Umschreibungen, welche mit den Lauten der gesprochenen Wörter garnichts zu tun haben: so En-zu »Herr der Weisheit« für den Mondgott, Ne-unu-gal »Herr der großen Wohnung« für Nergal (ebenso später Amar-ut »Kind der Sonne (?)« für Marduk, dingir-pa »Gott des Griffels« für Nebo u.a.), Enlil-ki »Stätte des Enlil« für Nippur, Unu-ki »Wohnstätte« für Uruk, Kiengi »Land« für Sumer, Širpurla oder Širlapur für Lagaš u.a. Diese spielende Manier ist von den Schreibern auch später eifrig gepflegt worden; sie verschuldet, daß wir von vielen Göttern und Personen den wahren Namen nicht kennen und uns mit einer einfachen Umschreibung der Silbenzeichen begnügen müssen, obwohl wir wissen, daß der Name niemals so gesprochen worden ist. – Die große Entdeckung der Aegypter, daß alle menschliche Rede aus der Kombination einiger weniger Laute besteht, und die Bezeichnung derselben durch einfache Buchstabenzeichen ist den Babyloniern fremd geblieben; die einfachsten Schriftzeichen, welche sie besitzen, bezeichnen einen Konsonanten mit vorhergehendem oder folgendem Vokal. Dadurch ist es später den babylonischen Semiten möglich geworden, jedes Wort in derartige einfache Silben aufzulösen (z.B. ba + at = bat) und [469] die Verwendung der komplizierten Silbenzeichen und der Wortzeichen und Ideogramme sehr stark einzuschränken.


Die späteren Gelehrten haben, wie Tafeln mit Erläuterung einzelner hieroglyphischer Zeichen lehren, von dem Ursprung der Schrift noch gute Kunde gehabt; daraus und aus den wenigen damals allein vorliegenden archaischen Inschriften hat schon OPPERT, Expéd. en Mesopotamie II 63 die richtigen Folgerungen gezogen. – Das Problem der Entstehung der einzelnen Zeichen hat FR. DELITZSCH, Die Entstehung des ältesten Schriftsystems 1896 [auch Ber. Säch. Ges. 1896], wesentlich gefördert, trotz mancher sehr problematischer Annahmen, die zu heftigen Angriffen geführt haben. Seitdem ist das Material ganz wesentlich gewachsen (vgl. § 378 A.). Daß für alle Zeichen die vertikale Stellung, mit Schreibung von rechts nach links, das Ursprüngliche ist, darf jetzt nicht mehr bestritten werden; später schreibt man in Langzeilen von links nach rechts und hat dabei die Zeichen umgedreht-Über die Technik MESSERSCHMIDT, Zur Technik des Tontafelschreibens, 1907.


377. Die Sumerer setzen, wie meist auch die Aegypter, die Zeichen in senkrechten Kolumnen unter einander; wo mehrere Zeichen neben einander stehen, folgen sie sich von rechts nach links. Die Kolumnen sind, anders als in Aegypten, nur klein und umfassen immer nur ein Wort oder eine zusammenhängende Wortgruppe; mehrere solcher Kolumnen werden dann von rechts nach links zu einer Zeile an einander gereiht, und darunter folgt eine neue Serie von Kolumnen als zweite Zeile. Sobald die Schrift einmal erfunden war, hat sie, wie in Aegypten, die ausgedehnteste Verwendung im Leben gefunden. Wir können nicht zweifeln, daß auch in Sinear schon in den ältesten uns bekannten Staaten die ganze Verwaltung schriftlich war und alle irgend wichtigen Vorkommnisse aufgezeichnet wurden. Erhalten sind uns noch früher als Königsdenkmale zahlreiche Urkunden des Privatlebens (Kontrakte), über Kauf und Verkauf, Darlehn, Schenkungen, Mieten, Lieferungen, Quittungen u.ä. Man benutzte für diese Aufzeichnungen kleine ovale Täfelchen von Ton, die auf beiden Seiten beschrieben wurden; bald hat man gelernt, sie nach der Aufzeichnung durch Brennen hart und dauerhaft [470] zu machen, und allmählich erhalten die Tafeln eine festere Gestalt, werden größer und viereckig. – Mit der Übung des Schreibens kommt auch der Gebrauch des Siegels auf. Es ist, wie in Aegypten, ein Cylinder, von Stein oder Ton, mit eingravierten Bildern, Tieren, Dämonen, phantastischen Wesen aller Art, später auch mit größeren mythologischen und kultischen Szenen, zu denen dann der Eigenname des Inhabers hinzutreten kann. Das Siegel wird auf den Urkunden auf dem weichen Ton abgerollt. Die ältesten erhaltenen Kontrakte kennen freilich das Siegel noch nicht. Noch früher als das Bedürfnis nach einer derartigen urkundlichen Beglaubigung durch ein die einzelne Person von jeder anderen unterscheidendes Abzeichen hat die Notwendigkeit, die Zeit eines Geschäftsabschlusses festzulegen, Befriedigung gefunden. Man bezeichnet das Jahr nach jährlich wechselnden Beamten (meist Priestern), neben denen auch der Name des Herrschers genannt werden kann. Später kommt dann, wie in Aegypten, die Sitte auf, daß dem Jahr von der Regierung ein offizieller Name nach einem Ereignis gegeben wird. Daneben findet sich bei Entemena von Tello und seinen Nachfolgern eine Zählung nach Herrscherjahren (§ 388 A.), die sonst in Babylonien erst unter den Kossaeern aufgekommen ist.


Über die Siegelcylinder s. im allgemeinen MÉNANT, Rech. sur la glyptique orientale I, 1883; derselbe, Colletion de Clerq I, 1888. FURTWÄNGLER, Die antiken Gemmen III, cap. 1. Das große Werk von W. H. WARD, The Seal Cylinders of Western Asia, 1910 [ferner WARD, Cylinders and Seals in the Library of P. Morgan, 1909] gibt eine reiche Materialsammlung, ist aber leider kritisch und historisch unzulänglich. Zahlreiche archaische Cylinder aus Fara Mitt. D. Orientges. 71, 5. – Jahresdatierungen finden sich schon auf den ältesten Kontrakttafeln aus Tello und Šuruppak bei THUREAU-DANGIN, Recueil de tablettes cunéiformes, 1903, wenn auch nur vereinzelt.

378. Aus der Zeit der Schriftanfänge sind Überreste und Urkunden bis jetzt noch nicht gefunden worden. Doch beginnen die Tontafeln (gelegentlich auch Steintafeln) sich zu mehren, auf denen wenigstens manche Zeichen noch völlig das hieroglyphische Bild bewahrt haben, während andere bereits [471] in Striche umgesetzt sind. Wir dürfen hoffen, daß uns auch in Sinear weitere Funde noch Denkmäler aus der Zeit bringen werden, wo die Schrift sich erst bildete und von der Zeichnung loszulösen begann, ähnlich den Darstellungen der alten Schminktafeln in Aegypten (§ 201). Die Annahme jedoch, daß dieses Übergangsstadium einen langen Zeitraum in Anspruch genommen habe, ist schwerlich zutreffend; vielmehr wird, sobald der erste Schritt, die Andeutung von Sätzen und die Bezeichnung einzelner Worte durch Bilder, gelungen war, die Entwicklung sehr rasch vorgeschritten sein. Jeder Schritt führte hier sofort weiter; und gerade die Unbeholfenheit der Zeichnung und die Umsetzung des Bildes in Striche hat den Fortgang ganz wesentlich erleichtert und beschleunigt, da mit der Loslösung der Schrift vom Bildwerk zugleich die Schöpfung neuer Zeichen rein graphischen Charakters ermöglicht war. So werden wir annehmen dürfen, daß die ältesten erhaltenen Urkunden von der Zeit der Schrifterfindung nicht sehr weit abstehen und die Vorstufen in Sinear eben so rasch durchlaufen sind wie in Aegypten in der Zeit der letzten Horusdiener vor Menes.


Tafeln mit teilweise hieroglyphischer Schrift: BLAUsche Steine mit Schriftzeichen und Skulpturen Proc. Amer. oriental. Soc. 1888 (KING Hist. of Sumer and Akkad, zu p. 62; vgl. § 362 A.). THUREAU-DANGIN, Rev. Sémit. 1896. Rev. d'Assyriol. VI 145ff. Eine große Serie ist vor einigen Jahren vom Berliner Museum erworben worden. Über die elamitische Schrift s. § 392.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 467-472.
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