Beziehungen der Kleinasiaten zu Syrien und Sinear

[734] 490. Immer von neuem ist uns in der kleinasiatischen Religion die enge Berührung mit der semitischen Welt entgegengetreten. Zum Teil beruht dieselbe auf historisch bekannten Vorgängen. Zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts haben die Chetiter den Norden Syriens erobert und sich hier am Amanos und Euphrat dauernd behauptet, wenn sie sich auch allmählich aramaisiert haben; und unmöglich ist es nicht, daß die Kulte von Bambyke und Doliche erst damals entstanden sind. Vor den Chetitern ist das Mitanivolk in Syrien eingedrungen (§ 465); und vorher liegt das Vordringen der Chetiter nach Babylonien [734]454) und die Entstehung chetitischer oder wenigstens mit der nördlichen kleinasiatischen Bevölkerung in enger Beziehung stehender Staaten und Bauten in Mesopotamien (§ 466) sowie der starke Einfluß, den sie auf Assur ausgeübt haben (vgl. § 478 A,), ferner die Herrschaft der Hyksos über Syrien und Aegypten, die vielleicht gleichfalls kleinasiatische Elemente enthalten hat. Zum Teil sind aber die Beziehungen noch viel älter, so vor allem die enge Verwandtschaft, ja Identität des Kults und der Sage des Adonis von Byblos mit dem Attiskult, die sakrale Prostitution, der später die Kastration folgt, überhaupt die ganze Ausgestaltung des Kults der großen Naturgöttin, welche den Namen der semitischen 'Athtar-Astarte trägt, ferner auch das Verbot des Schweinefleisches (vgl. § 487). Ursemitisch sind diese Dinge nicht, und schon oben § 345 ist die Vermutung ausgesprochen, daß hier kleinasiatische Einflüsse vorliegen. Ebenso ist die Verwandtschaft, ja Identität des kleinasiatischen Gewittergottes (Tešub) mit dem Hadad der Amoriter und Assyrer so auffallend, daß man auch da einen ursprünglichen Zusammenhang anzunehmen geneigt sein wird; und auch auf die Verbreitung des Mondgottes in Syrien (ebenso in Charrân) wird man hinweisen dürfen. Aber die Berührungen reichen auch nach Sinear und zu den Sumerern (vgl. § 476 A.); der mit Attis und Adoms eng verwandte Tammûzkult, die religiöse Prostitution, die Flutsage sind beiden Gebieten gemeinsam. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß vielfach nur gleichartige Entwicklungen vorliegen, daß z.B. Tammûz eben so selbständig neben Attis steht, wie in Aegypten Osiris, und daß dann in Byblos alle drei durch sekundäre historische Berührung im Adoniskult zu einer Einheit zusammengeflossen sind; und zweifellos hat auf das östliche Kleinasien schon im dritten Jahrtausend ein bedeutender babylonischer Einfluß gewirkt, ebenso wie umgekehrt von da an kleinasiatisch-chetitische Elemente nach Sinear gelangt sind. Aber die Beziehungen zwischen Syrien und Kleinasien sind doch so eng, daß die Annahme große Wahrscheinlichkeit gewinnt, Syrien, und auch das nördliche Mesopotamien, sei ursprünglich, lange vor dem [735] Eindringen des Mitanivolks und der Chetiter, von einer kleinasiatischen Bevölkerung bewohnt gewesen und die Semiten seien überall erst spätere Eindringlinge, zumal da sich in Nordsyrien und dem westlichen Mesopotamien eine altsemitische Bevölkerung nirgends nachweisen läßt. Dieses Ergebnis der religionsgeschichtlichen Betrachtung und die anthropologische Hypothese v. LUSCHANS, daß der Typus der Bevölkerung Assyriens, Syriens und Palaestinas (einschließlich der Juden) auf eine Mischung einer hyperbrachykephalen kleinasiatischen Bevölkerung mit den echten Semiten der Wüste zurückgehe (§§ 330. 433 a), stützen sich gegenseitig. Ob wir noch weiter gehen können, ob wir trotz des von den Kleinasiaten (wie von den Semiten) ganz abweichenden Typus der Sumerer Gudeas auch zwischen Kleinasiaten und Sumerern doch noch einen ursprünglichen Zusammenhang annehmen müssen, wird erst die Zukunft lehren: es ist schon ein großer Fortschritt, den erst die letzten Jahre möglich gemacht haben, daß derartige Fragen überhaupt wissenschaftlich gestellt werden können.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 734-736.
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