Mykene und Tiryns. Die Kuppelgräber.

Das argivische Königreich

[238] Inzwischen war die Entwicklung auf dem griechischen Festland weiter fortgeschritten. Die Denkmäler, die sie geschaffen hat, gehören zum Teil noch in die Zeit vor dem Falle Kretas, wie z.B. die Vasen im kretischen Palaststil im Kuppelgrab von Pylos und gleichartige Scherben aus Mykene und sonst beweisen465. Aber bei dem Fehlen jeder Kunde über den geschichtlichen Verlauf ist es unmöglich, innerhalb dieser Entwicklung den Zeitpunkt zu bestimmen, in den die Eroberung Kretas und überhaupt die Ausbreitung der Griechen über das ägaeische Meer fällt; wir müssen uns darauf beschränken, das Gesamtbild der Gestaltung zu zeichnen, soweit sie sich aus den Monumenten erkennen läßt.

Die kretisch-mykenische Mischkultur, in deren erstes Stadium die Schachtgräber von Mykene einen Einblick gewährt haben, hat sich weithin über die Küstenlandschaften des Südens und Ostens der griechischen Halbinsel ausgebreitet. Vor allem in der argivischen Ebene ist das kretische Kunstgewerbe voll eingebürgert; es entstehn, zunächst wohl durch aus Kreta eingewanderte oder herübergeholte Handwerker betrieben, Fabriken von Tongefäßen466, in denen in der Gestaltung und Bemalung die jüngste Form des kretischen Stils (Late Minoan II) beibehalten wird, nur daß die rein dekorative Stilisierung der Motive sich noch weiter fortbildet und die naturalistische Wiedergabe des ursprünglichen Vorbildes [239] aus der Pflanzen- und Tierwelt völlig preisgegeben wird467. Neben diesen eleganten Waren, deren Formen sich durchweg als Nachbildungen metallener Prunkgefäße in billigerem Material erweisen, hat sich, wenngleich durch die führende Industrie stark zurückgedrängt, bei den einheimischen Handwerkern nach wie vor die Fabrikation der altüberkommenen primitiven Gefäße mit linearer Ornamentik in Mattmalerei für den Hausgebrauch und die ärmere Bevölkerung erhalten. Auch in den Metallarbeiten und Siegeln hat der kretische Stil die volle Herrschaft, und ebenso in der Dekoration und den Wandmalereien der Gebäude468. Daneben aber ist der Steinbau zu voller Entwicklung gelangt; man hat gelernt, die gewaltigen Blöcke, sowohl polygonal wie in rechteckigen Quadern, zunächst mit der Axt, dann auch mit der Säge, regelrecht zu bearbeiten und aneinanderzufügen. Die Technik des Bogenbaus ist dieser Zeit noch völlig fremd; aber durch Überkragung, durch reihenweises Vorschieben der Blöcke, die durch den auf ihnen lastenden Druck in ihrer Lage festgehalten werden, vermag man einen Raum zu überdecken und so, mit gewaltiger Kraftanstrengung, den Eindruck zu schaffen, den in der entwickelten Baukunst ein spitzbogiges Gewölbe erzeugt. Die Dekoration, die jetzt in Stein umgesetzten Holzsäulen, deren nach unten sich verjüngende Gestalt beibehalten wird, die Wandmalereien, die Friese an den Sockeln mit Halbrosetten und Palmetten (sog. Triglyphenfriese o. S. 175. 187), mit eingelegten Würfeln von bläulichem Glasfluß, sind aus Kreta übernommen; aber in den gewaltigen Steinbauten und ebenso in dem von dem kretischen völlig abweichenden Grundriß der [240] Paläste offenbart sich die Selbständigkeit und die Energie der festländischen Bevölkerung.

In Mykene ist die alte Burgmauer ausgebessert und durch einzelne Türme verstärkt, und vor allem am Eingang durch Einbeziehung des Gräberrundes erweitert worden. Hier, am Haupttor und dem dasselbe schützenden Turm, ist die Außenseite der Mauer nicht polygonal, sondern in regelrecht geschichteten Steinquadern aufgeführt. Auf den Türpfosten ruht ein riesiger Steinbalken, über dem zur Entlastung ein dreieckiger Raum ausgespart ist; in diesen ist eine Reliefplatte von Kalkstein eingesetzt, auf der eine kretische Säule mit Unterbau und Gebälk von zwei mächtig aufgerichteten Löwen flankiert wird – eine nach Art der Siegelbilder der kretischen Kultbauten wappenartig abgekürzte Darstellung des Königspalastes und der Macht des in ihm thronenden Herrschers. Außer diesem Tor, durch das die Fahrstrecke zum Palast hinaufführt und von dem alle Straßen in die Landschaft ausgehn, besitzt Mykene nur noch eine Ausfallspforte auf der Rückseite, die den Zugang zur Quelle Persaia weiter oben in der Schlucht gestattet. Später ist dann hier im Osten vor der Mauer noch ein Wasserreservoir angelegt, zu dem ein geheimer Treppengang durch die Mauer hinabführt.

Vom Palast von Mykene ist nur ein Teil der Grundmauern nebst dem Treppenaufgang erhalten. Doch haben sich aus dürftigen Resten der Wandgemälde, die sich hier im Schutt gefunden haben, die Fresken rekonstruieren lassen, mit denen die Wände des Megaron bemalt waren. Sie stellen, wie später unter Sethos I. im Tempel zu Karnak, in fortlaufender Reihe einen Kriegszug dar, das Lager, den Auszug zum Kampf und die Schlacht; wie auf den Silbervasen der Schachtgräber ist auch hier Tracht und Bewaffnung die mykenische469. Dazu kommt das Gemälde einer Votivtafel, auf [241] der das Schildidol der Kriegsgöttin ganz im kretischen Stil von zwei Frauen verehrt wird470.

An die Burg schließt sich die Unterstadt auf dem niedrigeren, rechtwinklig an sie ansetzenden Höhenrücken. Sie war unbefestigt471 und scheint, wie das homerische Beiwort (Il. Δ 52) »weitstraßig« zeigt, mehr dorfartig besiedelt gewesen zu sein. Der Hügel hat zugleich als Nekropole gedient; an den Abhängen zerstreut liegen die großen Kuppelgräber.

Neben Mykene steht eine zweite Herrscherburg in Tiryns auf einem niedrigen Hügel unweit des Meeres und der durch einen Felsvorsprung gebildeten Bucht von Nauplia. Auf dem von einem Mauerring umschlossenen Hügel lag ein Palast, von dessen den mykenischen gleichartigen Wandgemälden sich gleichfalls einige Reste erhalten haben472. In der Folgezeit, etwa um 1300, ist die ältere Anlage durch einen mächtigen Neubau ersetzt worden. Der gesamte Hügel, einschließlich der niedrigeren Unterburg, wird von einem mächtigen Mauerring umzogen, dessen durch Überkragung überwölbte Kasematten [242] eine der eindrucksvollsten Schöpfungen der mykenischen Architektur darstellen. Die Oberburg umschließt den Palast, in dem die von den kretischen völlig abweichende Anlage der mykenischen Paläste ihren vollendeten Ausdruck gefunden hat. Von Osten her führt der Weg durch ein mächtiges Tor hinauf zur Eingangshalle (Propylon) des großen Hofs vor der Front des Palastes. Von ihm gelangt man durch ein zweites Propylon in einen großen, rings von Säulenhallen umgebenen Hof, in dessen Mitte der Altar des Zeus herkeios steht, und aus diesem durch eine lichte Eingangshalle nebst anschließendem Vorzimmer in den Hauptraum, den Männersaal (Megaron) mit dem Hausherd unter einer Öffnung des von vier Holzsäulen getragenen Daches und dem erhöhten Königssitz an der Längswand. Dieser Zentralbau beherrscht, in bezeichnendem Gegensatz gegen die kretischen Paläste, die gesamte Anlage und schafft, in organischer Verbindung mit den mächtigen ihn umschließenden Festungsmauern, einen einheitlichen Gesamteindruck, der dort völlig fehlt. Die Einzelgestaltung dagegen ist, wie in Mykene, durchweg von den kretischen Vorbildern abhängig, so die Holzsäulen, die Alabasterfriese mit Halbrosetten und eingelegtem Glasfluß, die Bemalung des Fußbodens mit einem Teppichmuster, das zwischen Gewebe nachbildenden Quadraten abwechselnd Delphine und Polypen einsetzt. Rings um das Megaron liegen, wie in Kreta, ohne einheitlichen Plan zahlreiche Kammern und Korridore473; auch ein Badezimmer fehlt hier so wenig wie dort474; vortrefflich gesorgt ist für Wasserleitung und Kanalisation. Die Wandgemälde stellen eine Frauenprozession und Jagden dar, ferner eine über einen Stier, den sie bei den Hörnern packt, hinwegspringende Frau. Diese Form des Kampfspiels ist also auch auf dem Festlande übernommen worden. Künstlerisch zeigen diese Gemälde einen gewaltigen Rückschritt gegenüber den [243] ältern; wie auf Kreta ist auch auf dem Festlande, wenn auch etwas später, die künstlerische Kraft nach kurzer Blütezeit ständig weiter gesunken und der Routine erlegen.

Unter der Festung, deren Unterburg in Kriegszeiten als Zufluchtsstätte für Menschen und Vieh dienen konnte, liegt auch hier die offene Ortschaft; ein schmaler, durch eine starke Vormauer gesicherter Treppenweg führt an der Westseite unmittelbar zu ihr hinab.

Daß so in der argivischen Ebene zwei Königsburgen dicht nebeneinander liegen – der Abstand beträgt nur 15 Kilometer475 –, hat vielfach zu der Annahme geführt, daß die durchaus einheitliche Landschaft jahrhundertelang in zwei selbständige Fürstentümer zerrissen gewesen sei. Indessen eine solche Trennung des Küstengebiets von dem Binnenlande ist geographisch wie historisch eine Unmöglichkeit; Mykene ist ohne rege Verbindung mit dem Meere ganz undenkbar. Eine Bestätigung bietet das große Straßennetz, das vom Löwentor Mykenes ausgeht. Längs der Gebirgsabhänge sind diese Straßen in zahlreichen Überresten erhalten. Sie sind alle im »kyklopischen« Stil erbaut: am Abhang wird durch Absprengen von Felsblöcken und Aufschichten derselben an der anderen Seite eine schmale Fahrstraße von 31/2 Meter Breite geschaffen, die, nachdem die Höhe gewonnen ist, möglichst horizontal geführt wird und daher auch weite Ausbuchtungen nicht scheut. Alle die zahlreichen Gießbäche und Wasserdurchlässe sind im kyklopischen Stil durch Überkragung mit großen, roh behauenen Blöcken überbrückt. Deutlich sind diese Straßen für die leichten, zweirädrigen Kriegswagen erbaut, die so, auf ebenen Wegen, das Land rasch durchjagen und in kurzer Zeit überall eingreifen konnten. Drei dieser Straßen führen ins Gebirgsland im Norden und Osten und weiter bis zum Isthmus, eine vierte südwärts oberhalb der Ebene nach Prosymna mit der Kultstätte der [244] Landesgöttin Hera. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß diese Straßen sich auch in der Ebene – wo sie natürlich nicht mehr erhalten sind – bis nach Tiryns und zum Meere und ebenso durch das Hinterland nach Osten fortgesetzt haben; hier hat sich auf der Straße nach Epidauros noch eine mächtige Brücke des gleichen Stils erhalten476. Dieses einheitliche, planmäßig angelegte Straßennetz beweist die beherrschende Stellung und die festbegründete Staatsmacht Mykenes und widerlegt noch zwingender als die Denkmäler der Stadt selbst die weitverbreitete Ansicht, daß in der mykenischen Epoche die politischen Zustände noch primitiver und zersplitterter gewesen seien als in der homerischen Zeit. Die letzteres ist vielmehr eine Zeit fortschreitender Zersetzung und Atomisierung; aber diesen mittelalterlichen Zuständen voraus liegen auch hier weit kräftigere staatliche Gebilde, in derselben Weise, wie der Zersplitterung des germanischen Mittelalters das Frankenreich und das Reich Karls des Großen, und in Ägypten der Feudalzeit des Mittleren Reichs der Einheitsstaat der Pyramidenerbauer vorangeht.

Mithin kann Tiryns niemals ein selbständiger Staat gewesen sein, sondern nur eine zweite Königsstadt im Reich von Mykene. Es wird gegründet sein, um dem Meer möglichst nahe zu sein. Der Gedanke, etwa auf dem Hügel von Nauplia oder gar auf dem steil darüber aufragenden Burgfelsen des Palamidi eine Stadt und ein Schloß zu erbauen, lag dieser Epoche, die durchweg – so z.B. auch in Athen – die exponierte Lage unmittelbar am Meer scheut, noch völlig fern; der Hügel von Tiryns dagegen bot alles, was man begehren konnte. Es mag die bevorzugte Residenz der Herrscher geworden sein; so wird es weit glänzender ausgebaut als das seinen altertümlichen Charakter bewahrende Mykene477.

[245] Auch die anderen Ortschaften der Argolis, in denen sich Überreste aus mykenischer Zeit gefunden haben, so Prosymna (beim Heraeon), Mideia, Nauplia und weiter südlich die Burg von Asine sowie die Orte der Akte, auch der Hügel der Aspis von Argos u.a. sind wohl Sitze von Adelsgeschlechtern gewesen; aber diese waren nicht unabhängige Dynasten, sondern zum Kriegsdienst verpflichtete Gefolgsleute der mykenischen Könige. Das wird dadurch bestätigt, daß sich zwar in diesem Gebiete überall Felsgräber mit mykenischen Scherben finden, aber Kuppelgräber nur drei, eins bei Prosymna (dem Heraeon), eins bei Mideia, mit außerordentlich reicher Ausstattung, eins bei Tiryns. Dem gegenüber stehn die neun Kuppelgräber von Mykene; deutlich zeigt sich, daß dies dauernd die Hauptstadt des Reichs geblieben ist, in der die Könige sich ihre Grabstätten erbauten, während an den anderen Orten nur gelegentlich einmal ein zu größerer Macht gelangter Dynast sich ein gleichartiges Grabmal errichtet hat. Bei dem völligen Fehlen geschichtlicher Überlieferung ist es unmöglich, in den zeitlichen Verlauf der politischen Entwicklung und die gewiß wiederholt vorgekommene Verschiebung der Machtverhältnisse einen näheren Einblick zu gewinnen.

Mit diesen Grabbauten ist die voll entwickelte mykenische Blütezeit weit über die Epoche der Schachtgräber hinausgeschritten. Die vornehmen Magnaten legen ihre Gräber, die wahrscheinlich als Geschlechtsgräber gedient haben, in den Felswänden an; zu der rechteckigen Kammer führt durch diese ein Zugang, der dann, wenn das Grab nicht mehr benutzt wird, vermauert und mit Felsblöcken verschüttet wird. Für das Königsgrab dagegen wird im Felsen eine große Höhlung ausgeschachtet und in dieser ein mächtiger Rundbau aufgeführt, der durch konzentrische Steinringe von stetig abnehmendem Durchmesser gebildet ist, so daß sich der Bau nach oben bienenkorbartig wölbt und endlich durch einen Schlußstein gedeckt werden kann. Dann wird der Bau mit Erde [246] überschüttet. Den Zugang bildet auch hier ein langer in den Felsen geschnittener Gang (Dromos) mit verschließbarer Tür.

Die neun verstreut auf den Abhängen des Hügels der Unterstadt liegenden Kuppelgräber von Mykene lassen einen ständigen Fortschritt der Technik erkennen. Die primitivsten sind »kyklopisch« aus kleinen, nur flüchtig behauenen, unregelmäßig zusammengefügten Steinen erbaut, an den Felswänden des Dromos fehlt jede Bekleidung, die Eingangstür ist mit mehreren Steinblöcken überdeckt. Bei einem (dem sog. Grab des Aegisthos) ist ihr später ein besseres Portal mit Pfeilern aus regelrecht behauenen Quadern vorgesetzt. Allmählich verbessert sich dann die Bauweise, der Dachbalken des Tores ist größer und sorgfältig behauen und darüber ein Entlastungsdreieck ausgespart, auch der Dromos wird mit Mauern eingefaßt, Quadern werden häufiger verwendet. Die vollendete Form ist erreicht in dem von der antiken Tradition als Schatzhaus des Atreus bezeichneten Grabe; durch die Großartigkeit seiner Dimensionen, die innere Geschlossenheit der Anlage und die Präzision, mit der die gewaltigen Steinblöcke behauen und zusammengefügt sind, gehört dieser Riesenbau zu den wirkungsvollsten Schöpfungen der Architekturgeschichte und stellt sich neben die Pyramiden Ägyptens. Die Wände des Kuppelraums waren mit bronzenen Rosetten geschmückt; für die Leichen, die sonst im Fußboden beigesetzt wurden, ist eine große viereckige Kammer angefügt, so daß der Hauptraum hier lediglich den Totenfeiern dient. Die Eingangstür ist (wie auch die der Leichenkammer) mit einer riesigen Steinplatte überdeckt, mit dem Entlastungsraum darüber; die Türpfosten waren außen mit reich dekorierten Halbsäulen verkleidet, die sich nach Art der kretischen Holzsäulen nach unten verjüngen. Auch der Dromos ist ganz von Quaderwänden eingefaßt. Dies Grab ist deutlich gleichzeitig mit dem Löwentor und vermutlich von demselben Herrscher errichtet. Jünger ist dann das zierliche, am Eingang mit kannelierten Halbsäulen geschmückte Grab in der Nähe des Löwentors, das jetzt als »Grab Frau Schliemanns« [247] oder »Grab der Klytämnestra« bezeichnet wird. Damit oder mit dem vielleicht noch jüngeren und wesentlich kleineren »Tomb of Genii«, das zu wiederholten Bestattungen benutzt zu sein scheint, bricht die Reihe ab478. So haben wir in den neun Gräbern eine Folge von mindestens neun Königen, die zusammen über zwei Jahrhunderte lang, also rund von 1430-1230, regiert haben werden.

Diese Monumente zeigen die gewaltige Bedeutung, welche der Totendienst gewonnen hat. Nahezu in demselben Umfang wie in den Zeiten des Alten Reichs Ägyptens wird ein Hauptteil der Machtmittel des Herrschers wie der Magnaten dazu verwendet, ihren Leichen eine würdige Ruhestätte zu schaffen. Für die Ausstattung des Daseins im Totenreiche wird dem Gestorbenen der kostbarste Teil seiner Habe mitgegeben479. Diener (vielleicht zum Teil Kriegsgefangene, wie bei Patroklos in der Ilias) und Dienerinnen wurden, wie die [248] gefundenen Gebeine bestätigen, am Grabe geschlachtet, ebenso die Rosse. Dazu kommen die Totenopfer, deren Blut in die Erde fließt; denn der Totengeist bedarf des Blutes, um sein gespenstisches Dasein lebendig zu erhalten. Daß, genau wie später, an bestimmten Tagen die Nachkommen sich immer wieder zu Totenfeiern versammelten und Leichenschmäuse mit Opfergaben hielten, zeigen die zahlreichen Scherben aus jüngerer Zeit, die sich in den Gräbern finden. Auch an Leichenspielen, vor allem Wettrennen, wird es jetzt so wenig gefehlt haben wie in der homerischen und nachhomerischen Zeit; vielmehr ist das ein Brauch, der bis in die Urzeit zurückreicht.

In dieser Gestaltung des Totendienstes mit seinen strengen und blutigen Forderungen tritt ebenso wie im Kriegswesen und den Festungsbauten der Gegensatz gegen Kreta mit seiner heiter-sorglosen Auffassung des Lebens deutlich zutage. Wie wir gesehn haben, sind diese Grabformen mit Steinbau und Überkragung gegen Ende der Selbständigkeit Kretas auch dorthin übertragen worden, aber in weit unvollkommenerer Form; an das Kuppelgrab des Atreus reicht das Grab von Isopata (S. 201) nicht entfernt hinan.

Mit dem aus den Denkmälern gewonnenen Bilde stimmt die griechische Sagentradition in ihren wirklich bis in die mykenische Epoche zurückreichenden Bestandteilen vollständig überein. In ihr bildet die argivische Landschaft ein einheitliches Reich, dessen Herrscher weithin über die griechische Welt gebietet. In der Sage vom troischen Kriege ist es der König von Mykene, Agamemnon, »der mächtig über alle Argiver gebietet und dem die Achaeer gehorchen«; mit seinem Szepter, das seine Vorfahren von Zeus durch den Götterboten Hermes erhalten haben, herrscht er über viele Inseln und ganz Argos – dieser Name umfaßt hier und an zahlreichen gleichartigen Stellen, wie die alten Grammatiker richtig erklären, den ganzen Peloponnes480; die übrigen »Könige«, die [249] sich zum Kampf gegen Troja verbunden haben, sind seine Gefolgsleute, die sich, so oft sie sich auflehnen mögen und so sehr er an ihren Beirat gebunden ist, schließlich doch immer seiner Übermacht fügen müssen. Der Zeit des Epos ist eine umfassende Staatsgewalt längst fremd geworden, sie kennt nur eine Fülle selbständiger Kleinstaaten; umso weniger kann diese Gestaltung von ihr neu geschaffen sein, sondern sie beruht auf alter und echter Tradition, die in den jüngeren Schichten des Epos mehr und mehr verblaßt. Das Königsgeschlecht, in dem ein Seniorat herrscht, so daß auf den verstorbenen Herrscher sein Bruder und dann dessen ältester Neffe folgt481, führt seinen Stammbaum auf Pelops zurück. Dieser Name stellt sich zu den zahlreichen alten Volksnamen mit dem Suffix –op (vgl. u. S. 270) und mag daher ursprünglich ein verschollener Volksstamm gewesen sein; dauernd lebendig geblieben ist er nur dadurch, daß die ganze, durch den Isthmus vom Festlande getrennte Halbinsel den Namen »Pelopsinsel« trägt. Auch darin spricht sich die Machtstellung aus, welche das von ihm abgeleitete Herrschergeschlecht besessen hat.

Auch in der Heraklessage residiert Eurystheus, der Herrscher aus Zeus' Geschlecht, dem Zeus die Herrschaft »über alle Umwohner« verheißen hat und dem daher auch Herakles dienstbar werden muß, in Mykene; hierhin bringt ihm Herakles regelmäßig die Beutestücke482. In dem dritten großen Sagenkreis, [250] dem vom Kampf gegen Theben kommt zwar Mykene nicht vor483, aber die argivische Landschaft ist auch hier der Sitz eines mächtigen Herrschers, des Adrastos484, der die Führung des Krieges übernimmt485.

[251] Die volle Bestätigung bietet, daß die Landschaft auch im Kultus eine Einheit bildet. Sie hat nur eine Schutzgottheit und nur einen religiösen Mittelpunkt: das Heiligtum der großen Landesgöttin Hera, der Ἥρα Ἀργεία, das bei Prosymna am Fuß des Berges Euboia an der Straße von Mykene nach Tiryns gelegen ist486. Der Tempel, das Heraion, der dann unter der Verwaltung der Stadt Argos steht, ist natürlich weit jünger; daß aber ihr Kult in die mykenische Epoche hinaufragt, beweist das hohe Ansehn, in dem sie im Epos steht, und die weite Verbreitung ihres Dienstes, so vor allem nach Samos.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 238-252.
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