Abschaffung des Königtums

[312] Rechtsprechung und Heerführung ist der Beruf des Königs; nach der letzteren hat er seinen Namen, βασιλεύς der »Volksführer«, d.h. Herzog, in Sparta ἀρχαγέτας der »Anführer«, in [312] Thessalien ταγός der »Herzog«. Im Kriege hat er das Recht über Leben und Tod (Il. B 391ff., vgl. Aristot. pol. III 9, 2). Auch im Frieden ist er der oberste Leiter des Volkes, der Vertreter der Gemeinde und ihrer Interessen, der Schirm der Schwachen, der Witwen und Waisen. Er hat dafür zu sorgen, daß jedem zuteil wird, was ihm nach göttlichem und menschlichem Recht zusteht; das besagt der Titel αἰσυμνήτης »Gebührwalt«, der in vielen äolischen und ionischen Städten den höchsten Beamten mit königlicher Machtvollkommenheit bezeichnet486. Die Rechtsprechung trägt noch den Charakter des Schiedsgerichts; die Parteien, welche sich nicht einigen können, gehen vor den König, dieser entscheidet mit Hilfe seines Rats nach dem Herkommen und bestem Ermessen. Dafür erhält er von den Parteien ein Geschenk – diese Gerichtsgebühren bilden neben dem Ertrage des Königsguts und den Abgaben bei Opfern und Mahlzeiten (o. S. 293) die Haupteinnahmen des Königs (z.B. Od. λ 186. α 392; daher δωροφάγοι βασιλῆες Hesiod op. 38. 221. 264)487. Deshalb taugt es für den Armen nicht, Prozesse zu führen, die seine ganze Habe aufzehren; besser ist es, sich in Frieden zu vergleichen (Hesiod op. 30ff.). Die Macht des Königs stammt von Zeus; aber sie ist nicht unumschränkt, sondern an Recht und Herkommen gebunden. Allmonatlich schwören in [313] Sparta die Könige und als Repräsentanten des Volks die Ephoren, ihre gegenseitigen Rechte achten zu wollen (Xen. rep. Lac. 15, 7). Denselben Eid leisten König und Volk der Molosser in Epiros (Plut. Pyrrh. 5); in Athen schwören die Archonten, nach dem Vorbild des ersten Königs zu regieren (u. S. 318), ein Eid, der jedenfalls weit in die Königszeit hinaufragt. Ähnliche Satzungen werden auch sonst vielfach bestanden haben.

Für entwickeltere Verhältnisse reicht namentlich in größeren Gebieten die Tätigkeit des Königs nicht mehr aus; für Rechtsprechung und Verwaltung treten ihm Jahrbeamte zur Seite. So in Athen die sechs »Rechtssetzer« (ϑεσμοϑέται), in Sparta fünf »Aufseher« (ἔφοροι), in den kretischen Staaten zehn »Ordner« (κόσμοι) und ähnlich wohl in den meisten anderen Staaten488. Die Aufgebote der Phylen befehligen in Attika489 die Phylenkönige; die Oberleitung des Heeres aber hat früh an Stelle des Königs ein »Kriegsherr« (πολέμαρχος) erhalten. Dazu kommen die Kassenbeamten der Gemeinde (o. S. 293), die Vorsteher der Phylen und Phratrien (o. S. 287f.), die Priester der Staatskulte, deren Amt meist in bestimmten Familien erblich ist, erwählte Schiedsrichter für die Kampfspiele (Od. ϑ 258 bei den Phäaken αἰσυμνῆται κριτοὶ ἐννέα δήμιοι, οἳ κατ᾽ ἀγῶνας ἐὺ πρησσέσκον έκαστα, also ein ständiges Amt; vgl. den Hellanodikas in Elis) u.ä. Ursprünglich mögen diese Beamten vom König ernannt sein; in der homerischen [314] Zeit werden sie bereits von der Gemeinde durch Wahl (Od. η 150 γέρας ὅτι δῆμος ἔδωκεν) oder wie in Sparta durch Zuruf ernannt. Manche dieser Beamten sind dem König koordiniert und führen daher gleichfalls den Königstitel, so in Athen die Herzöge der vier Phylen (S. 287). In Elis (IGA. 112), in Mytilene (GDI. 214. 215, 46. Theophrast bei Stobäus flor. 46, 22 aus Pittakos), in Kyme (Plut. quaest. Gr. 2) finden wir mehrere βασιλῆες nebeneinander, auch das spartanische Doppelkönigtum ist gewiß so entstanden490. Nichts ist bezeichnender, als daß das Bedürfnis, den König des Staates von diesen Königen durch die Titulatur zu unterscheiden, überhaupt nicht empfunden wird. – Weit mehr noch als durch die Bildung dieser Ämter wird die Macht des Königs durch das steigende Ansehen des Rats beschränkt. Ursprünglich besteht dieser aus erfahrenen und angesehenen Männern, welche das waffenfähige Alter, das sechzigste Jahr, bereits überschritten haben – so ist es in Sparta immer geblieben. Wieweit ihre Zahl anfangs bestimmt war – in Sparta gibt es achtundzwanzig Geronten –, wissen wir nicht. Ernannt sind sie ursprünglich wohl vom König nach freiem Ermessen: der Herrscher lädt in seinen Rat und an seine Tafel, wen er will. Schon bei Homer aber finden wir auch jüngere Männer unter den Geronten, und später ist in den meisten griechischen Staaten die hohe Altersgrenze für die Ratsherren weggefallen. Das ist ein Symbol für die Verwandlung des Rates der Alten in einen Adelsrat: je mehr die Kultur und die Ausbildung des Stadtstaats fortschreitet, desto mehr wird er die eigentliche Regierungsbehörde. Der König verliert seine Selbständigkeit, in Verwaltung und Gericht ist er an die Zustimmung des Rats gebunden, auch das Ernennungsrecht verliert er, sei es, daß die Ratsherren vom Volk erwählt werden, sei es, daß sie sich aus den Häuptern der angesehensten Geschlechter ergänzen.

Die wachsende Bedeutung des Rats spricht sich darin aus, daß im gewöhnlichen Sprachgebrauch der Königstitel auf die Ratsherren und dann weiter auf alle Adligen übertragen wird (o. S. 282). [315] Unzweifelhaft haben die Könige manchen Versuch unternommen, ihre Machtstellung zu behaupten. Bei Homer tritt uns der Gegensatz zwischen dem Oberkönig und den selbstherrlichen Adligen vielfach entgegen; der bekannte Spruch, der die Vielherrschaft verurteilt und nur von dem einen Herrn wissen will, den Zeus gesetzt hat (B 103), führt uns mitten in den politischen Kampf. Aber auf die Dauer fehlte den Königen, wenn nicht einmal eine überragende Persönlichkeit auftrat, die Macht zur Wahrung ihrer Ansprüche. Manche adlige Familie mochte ihnen an Besitz, an Verdiensten und Einfluß überlegen sein; daß die Erblichkeit des Königtums wohl im allgemeinen, aber nicht ausnahmslos beachtet wurde, daß der König sein Amt formell erst durch die Zustimmung des Volkes, d.h. tatsächlich des Adels, erhält – vgl. die Zustände auf Ithaka während Odysseus' Abwesenheit –, war ein weiteres Moment der Schwäche. So ist das Königtum schließlich erlegen, meist, wie es scheint, ohne eigentlichen Kampf. Es wird nicht sowohl gestürzt als von Adel und Rat absorbiert, denn meist besteht es als Jahramt weiter; aber es wird seiner politischen Macht entkleidet und auf die sakralen Funktionen beschränkt. Für die politische Leitung des Staats wird ein neues Oberamt geschaffen, das tatsächlich und häufig auch offiziell den Vortritt vor dem Königtum erhält, das Amt des »Ersten« oder »Präsidenten« (πρύτανις, so vielfach in Kleinasien), des »Herrschers« (ἄρχων, so in Athen, Böotien und sonst öfters), des »Leiters der Gemeindeangelegenheiten« (δαμιουργός, so in Argos IGA. 30 und in vielen Staaten des westlichen Griechenlands [auch in Kroton IGA. 544]), oder einfach »des, der das höchste Amt hat« (in Elis ορ μεγιστον τελος εχοι και τοι βασιλαες IGA. 112, vgl. Thuk. V 47 οί δημιουργοὶ καὶ οἱ τὰ τέλη ἔχοντες καὶ οἱ ἑξακόσιοι in Elis)491. Das wichtigste ist die Beseitigung der Erblichkeit [316] und die jährliche Befristung des Oberamts – mehrfach mag diese schrittweise durchgeführt sein, wie in Athen, wo das Königtum zunächst auf zehn Jahre befristet wird. Im einzelnen wird die Entwicklung mannigfach verschieden verlaufen sein. In manchen Staaten sind den Nachkommen des Königshauses immer erbliche Ehrenrechte geblieben, so in Ephesos (Strabo XIV 1, 3. Diog. Laert. IX 6) und Skepsis (Strabo XIII 1, 52); auch in Argos gab es noch zur Zeit der Perserkriege einen König, vermutlich aus dem Hause der Temeniden (Herodot VII 149) – seine politische Ohnmacht, die bis in die Urzeit des Königs Pelasgos zurückdatiert wird, schildert Äschylos sehr anschaulich in den »Schutzflehenden« (vgl. u. S. 503). Auch in den übrigen Staaten kann von einer eigentlichen Revolution kaum die Rede sein; nirgends ist, soviel wir wissen, das Königshaus verjagt worden, es behält immer den höchsten Adel. Aber die Könige werden zu Standesgenossen ihrer Pairs. Vielfach ist das in seinen Befugnissen beschränkte höchste Amt lediglich sämtlichen Angehörigen des Königsgeschlechts zugänglich geworden, so daß an Stelle der Königsherrschaft ein Regiment des höchsten Adels tritt. So wird in Korinth der letzte König angeblich von seinen Verwandten ermordet; seitdem herrschen die Bakchiaden, »mehr als zweihundert an Zahl«, gemeinsam und »wählen aus sich alljährlich einen Prytanen, der die Stelle des Königs einnimmt«492. Ebenso regieren in Lesbos die Penthiliden (Aristot. pol. V 8, 13), in Erythrä die Basiliden (ib. V 5, 4), die Verwandten des alten Königshauses, ebenso in [317] Ephesos (Suidas IIΠυϑαγόρας). In anderen Staaten, wie in Athen, erhalten alle Adligen gleiche Rechte und Teilnahme am Regiment.

Etwas genauer können wir die Entwicklung in Athen verfolgen. Das Königshaus waren hier die Medontiden, als erster Herrscher galt Medons Sohn Akastos; noch in den Zeiten der Demokratie schwuren die Oberbeamten zu regieren wie dieser (Aristot. pol. Ath. 3, 3). Die Sagengeschichte schiebt ihnen eine Reihe nachkommenloser Könige vor, wie Kekrops und Erechtheus, ferner Aigeus und Theseus (o. S. 310); die ionische Genealogie macht Medon zum Sohn des Kodros und Nachkommen des Neleus von Pylos (u. S. 399). Akastos beginnt die Reihe der tatenlosen historischen Könige im Gegensatz zu den von der Legende reich bedachten Sagengestalten. Denn historische Erinnerungen, die über das 7. Jahrhundert hinaufreichen, gibt es nirgends; nur die Namen [die übrigens schwerlich alle historisch sind] haben sich im Gedächtnis bewahrt (o. S. 285). In Wirklichkeit lehrt der Eid der Archonten, daß Akastos' Gestalt weit älter ist als die der Urkönige; er führt uns in eine Zeit, in der die gesamte attische Sagengeschichte noch nicht existierte. Schon früh sind dem König einerseits sechs Richter (Thesmotheten), andrerseits ein Heerführer (Polemarch) beigeordnet. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts wird das lebenslängliche Königtum in ein zehnjähriges umgewandelt; aber die Medontiden behalten ihre Vorrechte. Erst vierzig Jahre später wird es jedem Adligen zugänglich. Auch diesmal aber kann keine tiefgreifende Revolution stattgefunden haben, denn immer sind die Medontiden eines der angesehensten attischen Adelsgeschlechter geblieben. Nach weiteren dreißig Jahren ist von 682 ab das Königtum in ein Jahramt umgewandelt und auf die Leitung der religiösen Feste und Prozesse (daher auch der Blutsgerichtsbarkeit) beschränkt worden, während die politische Leitung des Staats einem neuen Jahrbeamten, dem »Herrscher« (Archon), übertragen wird. Der Archon ist mithin der eigentliche Erbe des Königs, der regierende Oberbeamte; nach ihm wird das Jahr benannt; beim Amtsantritt erläßt er eine Verfügung, die jedem Bürger seinen Besitz garantiert (Aristot. pol. Ath. 56) – ein Brauch, in dem uns anschaulich die in alten Zeiten während des Interregnums [318] herrschende Gesetzlosigkeit entgegentritt. Die sämtlichen Oberbeamten, Archon, König, Polemarch, und die sechs Thesmotheten werden seitdem als »die neun Herrscher« (οἱ ἐννέα ἄρχοντες) zu einem Kollegium zusammengefaßt493.

Auch die Bewegung, welche zur Abschaffung des Königtums führt, verläuft wie aller politische und Kulturfortschritt von Ost nach West. In Kleinasien mag sie sich meist zu Anfang des 8. Jahrhunderts vollzogen haben, in Korinth ist sie um 747 v. Chr. eingetreten, in Attika fällt sie ans Ende des Jahrhunderts, bei den Arkadern und Pisaten hat das Königtum noch um die Mitte des 7. Jahrhunderts bestanden (a.S. 499ff.). Allmählich ist es dann auch da, wo die Stammverfassung bestehen blieb, wie in Ätolien und Elis, in Wegfall gekommen oder zu einem Schattenkönigtum geworden. [319] Dagegen hat sich bei den Epiroten und Makedonen wie bei Thrakern und Illyriern meist494 das Stammkönigtum erhalten. In der griechischen Welt hat sich das alte Königtum einzig in Sparta behauptet; hier gab es eben keinen Adel. Überdies machte die kriegerische Entwicklung, welche der Staat seit dem Ende des 8. Jahrhunderts einschlug, die Erhaltung des erblichen Heerführers nötig. Die beiden Könige sind in Sparta immer die Träger der Souveränität geblieben, nicht nur den Fremden und den Göttern, sondern auch dem. Bürger gegenüber. An den Rat der Alten sind sie gebunden, und ihre Stimme gilt hier nicht mehr als die jedes anderen Ratsherrn (Thuk. I 20 gegen Herod. VI 57). Aber im Felde gebieten sie unumschränkt, sie erklären den Krieg und führen das Aufgebot in Feindesland, ohne daß ihnen jemand dareinreden kann. In Sachen der Adoption, der Erbtöchter, der Landstraßen haben sie die Gerichtshoheit. Sie erhalten regelmäßige Abgaben von Opfertieren, Gerste und Wein (o. S. 292f.), ihnen wird vom Staate Land zugewiesen. Wenn sie sterben, tritt allgemeine Landestrauer ein. Sie werden mit einem Pomp bestattet, der an den Orient und die mykenische Zeit erinnert. Erst durch die Umwandlung, die sich im spartanischen Staat seit dem Ende des 6. Jahrhunderts anbahnt, ist auch hier die Königsgewalt weniger formell als tatsächlich immer mehr beschränkt worden495.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 312-320.
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