Religion

[547] Die wichtigsten Faktoren der religiösen Entwicklung des 7. Jahrhunderts haben wir bereits kennengelernt: das Hervortreten der bäuerlichen Kulte, die reichere Gestaltung der Feste, das Eingreifen des Staats in die Ordnung des Gottesdienstes, den beginnenden Tempelbau. Wie überall erzeugt auch in Griechenland die Steigerung der Kultur zunächst eine Stärkung und Vertiefung der Religiosität – sie spricht sich auch darin aus, daß manche Kolonien nach Göttern benannt werden, so Potidäa, Posidonia, Apollonia, Heraklea. Die Güter, welche die Götter zu schützen haben, sind gewachsen wie die Mittel, sich ihren Schutz zu sichern, der Wert des Lebens ist größer geworden. Daher nimmt auch das Ansehen der Orakel ständig zu. Weder der Einzelne noch der Staat wagt irgendein wichtiges Unternehmen, ohne vorher die Billigung durch den untrüglichen Mund des Orakels zu holen und anzufragen, welchen Gott er gnädig stimmen muß, damit es zum glücklichen Ende geführt wird. In den kleinasiatischen und böotischen Orakelstätten, auf Delos, in Dodona, Olympia, Abai in Phokis (Herod. I 46. VIII 33. 134), vor allem aber in Pytho strömen die Ratsuchenden zusammen und mit ihnen die Weihgaben und Schätze; hier und in Olympia errichten die größeren griechischen Gemeinden der Reihe nach eigene Gebäude zur Aufnahme ihrer Geschenke. Allen andern Stätten läuft das pythische Orakel weitaus den Rang ab. Wenn die Pythia früher nur einmal im Jahre weissagte (Plut. quaest. Gr. 9), so verkündet sie jetzt mehrmals in jedem Monat die Offenbarung der Gottheit; die Formen der Befragung, die Reihenfolge und die Vorrechte der einzelnen Staaten werden genau geregelt. Delphi wird das Zentrum des religiösen Lebens für ganz Hellas; nicht wenige neue Kulte und Riten sind auf sein Geheiß eingeführt worden. Sein Einfluß auf die Entwicklung des neuen Blutrechts ward schon erwähnt. Die Könige von Lydien und Phrygien, die Dynasten der Etrusker holen sich hier Rat und senden reiche Geschenke. Auch politischen Einfluß wird die delphische Priesterschaft bereits jetzt ausgeübt haben, und umgekehrt suchen wie Gyges (o. S. 425) so die griechischen Tyrannen in Delphi [548] die Legitimierung ihrer Usurpation und eine Stütze ihrer Herrschaft.

Aber auch das Wesen der Gottheit verwandelt sich. Die idealen Göttergestalten, wie sie das Epos geschaffen hat, drängen sich in den Kultus ein und assimilieren sich die naturwüchsigen Mächte der Volksreligion; die fortgeschrittenen ethischen und sozialen Anschauungen fordern Geltung auch in der Götterwelt. Diese Bewegung ist nur um so tiefgreifender und nachhaltiger, weil sie sich langsam und unbemerkt vollzieht. Der Gegensatz zweier religiöser Welten ist tatsächlich da, aber er wird nicht als solcher empfunden, der Ausgleich nicht mit Bewußtsein oder gewaltsam erreicht. Der Gläubige wendet sich nicht ab von den überlieferten Gestalten, sondern er kann sich das Kultuswesen, zu dem er betet, gar nicht anders denken als in den Formen, die das Epos und jetzt auch der lyrische Gesang verherrlicht. Die Folge ist eine stetig fortschreitende Vermenschlichung der Götterwelt. Der Tierdienst stirbt ab; die alten Stein- und Holzfetische und die aus ihnen entwickelten brettförmigen und hermenartigen Idole (o. S. 386) behalten wohl im Kultus ihre Stelle und gelten als der eigentliche Sitz der Gottheit (ἕδος); aber sie werden zu überkommenen und für das Bewußtsein antiquierten Symbolen. Für neuerbaute oder restaurierte Heiligtümer, für Weihgeschenke verlangt man lebensvollere Darstellungen. Schritt für Schritt schwinden die alten unförmlichen und ungegliederten Formen, die eine menschliche Gestalt nur andeuten, aber nicht zum Ausdruck bringen. Langsam wagt man, die hehren Gestalten der Dichtung künstlerisch zu verwirklichen, die Gottheit in ihrer ganzen Herrlichkeit und Majestät darzustellen. Diese Ersetzung des Fetisches durch das Kultbild in Menschengestalt ist der Ausdruck eines gewaltigen religiösen Fortschritts: sie verkündet die Umwandlung der Gottheit in ein ethisches Wesen. Nicht mehr als rohe Naturmacht thront sie in ihrem Tempel, sondern als Vertreterin der ewigen Weltordnung, als Verkörperung und Gewähr des Bestehens und Gedeihens der Heimatgemeinde. Das Band, das den Gott und seine Verehrer vereinigt, ist auch jetzt noch unmittelbar gegeben und unlösbar; aber es ist ein sittliches geworden: die Gottheit hat sich Stadt und [549] Land erwählt und hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Um so leichter ist es möglich, mit fremden Göttern aus freiem Entschluß ein Band zu knüpfen und ihnen in der Heimat eine Wohnstätte zu schaffen: der universelle, nicht an einen Ort gebundene Charakter der Götter, den das Epos lange ausgebildet hat, dringt in die Volksreligion ein. Sie thronen in den seligen Höhen des Olympos als Diener des Weltenherrschers Zeus. Zwischen ihnen und der Menschenwelt bildet Apollo die Vermittlung, der Prophet des Zeus, der den göttlichen Willen verkündet und die Menschen den rechten Weg weist: darauf beruht die zentrale Stellung, die Apollo in der Religion des 7. Jahrhunderts einnimmt. Auch im Kultus streifen die Götter langsam ab, was ihnen von rohen und nach jetziger Anschauung unsittlichen Zügen anhaftet; man beginnt an ihre Taten und an ihr Verhältnis zu den Menschen den sittlichen Maßstab anzulegen. Daher die Forderung der Reinheit des Einzelnen wie der Gemeinde, aus der die Blutsühne und zahlreiche andere Sühnzeremonien erwachsen sind; daher, wenn man den Zorn der Götter empfindet, das Suchen nach der Verschuldung, die freilich oft genug noch in sehr äußerlichen Dingen gefunden wird; daher der in die Sage hineingetragene Glaube, daß auch die Götter Blut- und Freveltaten, die sie begangen haben, büßen müssen800. Darum verschwindet jetzt das Menschenopfer fast überall und wird durch symbolische Handlungen ersetzt, so im Kult der Artemis Iphigeneia in Brauron (Eurip. Iphig. Taur. 1458ff.), der Artemis Orthia in Sparta, wohl auch des Zeus Asterios in Gortyn, oder wenigstens auf die Hinrichtung eines Verbrechers beschränkt, wie beim Apollon Leukatas auf Leukas. Nur an einigen wenigen Stellen, wie am Lykaion in Arkadien, hat sich das Menschenopfer, jedoch gewiß nur in Ausnahmefällen, erhalten; aber auch hier wird es [550] möglichst mit Geheimnis umhüllt und gilt der späteren Anschauung trotz seiner göttlichen Sanktion für einen Totschlag, der gesühnt werden muß801.

Wenn der religiöse Glaube es nicht mehr duldet, daß die Götter lediglich ihren Launen folgen, sondern Gerechtigkeit von ihnen fordert, so widerspricht dem freilich der Gang des menschlichen Lebens oft genug. Aber in solchen Fällen ist der Glaube stärker als die Erfahrung. Das ethische Postulat bleibt bestehen; es findet eine Stütze an der Tatsache, daß im allgemeinen jede Verschuldung sich rächt, daß ungerechtes Gut nicht gedeiht, daß die Überhebung (ἄτη) dem jähen Sturz vorausgeht. Die Erfahrungen, die dem entgegenstehen, werden ignoriert; daß dem Unrecht über kurz oder lang die Strafe folgt, daß sie, wenn nicht die Väter, so die Söhne und Enkel trifft, gilt als zweifellos, wenn auch der gewandte oder vom Glück begünstigte Frevler ihr oft lange genug zu entschlüpfen vermag. Häufig freilich entzieht sich der Lauf der Dinge jeder Berechnung: den stürzen sie von der Höhe, jenen erheben sie wider alles Erwarten. Gerade die Zeiten der politischen Wirren und der sozialen Gärung zeigen fortwährend Beispiele plötzlichen Schicksalswechsels. Nur um so stärker wird dadurch das Gefühl des Abstands zwischen Gott und Mensch: das irdische Leben mit all seinem Schein und seinem Unbestand ist nichts gegen die Macht und die Seligkeit der Götter. Glücklich, wer sich das innere Gleichmaß wahrt, den Versuchungen widersteht und zufrieden mit dem, was die Götter ihm gewähren, nicht nach den schwindelnden Höhen strebt; er ist gefeit gegen die Schläge des Schicksals, die den Mächtigen treffen. Nicht zum geringsten Teil beruht die Wirkung der Elegie und der Lyrik darauf, daß sie diesen Anschauungen von Gottheit und Menschenschicksal, den aus Erfahrung und Nachdenken gewonnenen ethischen Lehren Ausdruck verleihen. Auch hier wird der Mensch geistig auf sich selbst gestellt. [551] Je nach der Individualität des Dichters tritt bald die Idee der Gerechtigkeit, bald die der göttlichen Allmacht und der Unberechenbarkeit des Schicksals mehr in den Vordergrund. Beide Anschauungen wirken dahin zusammen, daß in derselben Zeit, wo die Idealgestalten der Götter in den Kultus eindringen, sich hinter ihnen die allgemeine Idee der die Welt beherrschenden und ihre ewige Ordnung bestimmenden göttlichen Macht erhebt. Schon Archilochos, Semonides, Mimnermos ist es ganz geläufig, von den »Göttern« oder einfach von »Gott« als dem Lenker des Schicksals und Schirmer des Sittengesetzes zu reden. Fragt man, wer dieser Gott ist, so lautet die Antwort natürlich Zeus – oder auch »das Schicksal« (Μοῖρα, εἱμαρμένον, Kallin. 1, 9. 12). Aber der Name tut nichts mehr zur Sache, der Begriff ist das Wesentliche geworden. Vor der Idee der Gottheit beginnen die Einzelgestalten der Götter zu erblassen – noch nicht im Kultus und in der praktischen Betätigung der Religion, wohl aber in der zunächst fast unbewußten allgemeinen Empfindung und bald auch in der erwachenden Spekulation802.

Auch die Anschauungen vom Tode verschieben sich. Die alte Odyssee schildert die Toten als wesenlose Schatten, die nur vorübergehend durch Blutzauber zum Bewußtsein erwachen können. Aber eine der Telemachie entstammende oder nahe verwandte Eindichtung, die um 640 v. Ch. entstanden sein mag, zeigt bereits eine wesentlich andere Auffassung (λ 385-565). Hier haben die Toten zwar auch keine körperliche Existenz, aber volles Bewußtsein (λ 390 nach den Scholien 471. 543ff.), sie leben in der Erinnerung an ihr Dasein auf Erden, tragen ihre Lebensstellung (λ 485), ihre Liebe und ihren Haß mit hinab in die Unterwelt. Daher empfinden auch sie selbst die Kraft- und Freudlosigkeit ihres Daseins. »Lieber ein armer Tagelöhner auf Erden als König über alle Toten«, sagt Achill zum Odysseus. Man sieht, wie die gesteigerte Individualität sich geltend macht; der Gedanke, daß mit dem Tode die bewußte Existenz zum Abschluß kommt, widerspricht [552] dem zunehmenden Selbstbewußtsein. Dadurch erstarkt die populäre, vom Epos ignorierte Anschauung, welche in dem Verstorbenen ein verklärtes Wesen, einen Heros sieht (o. S. 382), namentlich auf dem Festland aufs neue – in der fortgeschrittenen ionischen Welt ist sie allerdings nie wieder wirklich lebendig geworden. Es wird Brauch, den Namen des Toten auf dem Grabstein zu verewigen – sehr bezeichnend ist, daß das in Sparta nur gestattet wird, wenn er im Kampfe für das Vaterland gefallen ist. Auf der Grabstele stellt man den Toten dar in verklärter Gestalt, nicht selten in ähnlicher Weise wie in Ägypten und auf chetitischen Grabstelen an dem mit Totenopfern bedeckten Tisch sitzend, vor ihm die Überlebenden, die ihm ihre Gaben darbringen oder von ihm Abschied nehmen. Hier ist das Leben nach dem Tode nicht eine trostlose Öde, sondern eine selige Fortsetzung des irdischen Lebens. Der spätere Unsterblichkeitsglaube beginnt sich zu bilden; bald sucht man nach Mitteln, sich der ungetrübten Fortexistenz der Persönlichkeit dauernd zu versichern.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 547-553.
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