Das übrige Griechenland. Mytilene

[586] Auch in anderen griechischen Staaten hat es an inneren Kämpfen und Usurpationen nicht gefehlt; von dem Hader der Parteien und von Verbannung handeln nicht wenige Gedichte der unter Theognis' Namen gehenden Sammlung, deren Heimat und Verfasser wir nicht kennen. Von den Bürgerkämpfen auf Euböa, von dem Sieg des Demos in Chalkis war früher die Rede (o. S. 498). In Eretria wurde die Herrschaft der Ritter durch Diagoras gestürzt, der durch eine Heirat mit dem Adel zerfallen war (Aristot. pol. V 5, 10). Außerdem wird noch aus dem 7. Jahrhundert ein gewisser Tynnondas genannt, der auf Euböa, in welcher Stadt wissen wir nicht, zum unumschränkten Machthaber gewählt wurde (Plut. Sol. 14). Thasos war, wie wir aus Archilochos wissen, seit seiner Gründung von Parteikämpfen zerrissen; ein Fragment redet von der Allmacht, welche Leophilos durch die Gunst der verblendeten Bürger gewann (fr. 70 D.). Ob es zu einer Tyrannis kam, wissen wir nicht; der Tyrann Symmachos, den die Spartaner gestürzt haben sollen (Plut. de Her. mal. 21), gehört einer späteren Zeit an. Über andere griechische Staaten sind uns höchstens einige chronologisch ganz unbestimmbare Andeutungen [586] bei Aristoteles erhalten841. Nur von Mytilene wissen wir einiges842. Mytilene war seit langem die mächtigste der lesbischen Städte. Die Kolonien in Troas und an der thrakischen Küste waren meist von ihm gegründet und ihm untertan; allein unter allen Äolerstädten hat Mytilene an der kommerziellen Entwicklung lebhaften Anteil genommen. Das Aufblühen der Stadt erzeugte ein reges materielles und geistiges Leben, das im Gegensatz zu der übrigen griechischen Welt und namentlich zu der ionischen Sitte durch die äußerst freie Stellung charakterisiert ist, welche die Frauen in der Gesellschaft einnahmen. Auf Lesbos entstanden bei ihnen Verkehrsformen, wie sie sonst für die griechische Männerwelt charakteristisch sind; in den Gedichten der Sappho treten sie uns in leidenschaftlicher, freilich für unser Gefühl kaum begreiflicher Gestalt entgegen843. Aus dem Wohlstand erwuchsen auch in Mytilene erbitterte politische Kämpfe. Die Penthiliden, welche den Demos mit hochmütiger Verachtung mißhandelten, wurden von Megakles gestürzt. Aber weder er noch Penthilos, Myrsilos, Melanchros, die nach ihm sich als Tyrannen erhoben, haben sich behauptet. Penthilos, offenbar ein Mitglied des gestürzten Adelsgeschlechts, wurde von Smerdis ermordet, den er schwer beleidigt hatte; bei Myrsilos' Tod jubelt Alkäos844, ein eifriger Vorkämpfer des Adels, »jetzt ist es Zeit zu zechen, jetzt darf man sich berauschen, da Myrsilos tot ist« (fr. 39 DIEHL, vgl. 30. 119)845. Melanchros, [587] den Alkäos mit Schmähungen überhäufte (fr. 29), wurde durch eine Verschwörung des Alkäos und seiner Brüder mit Pittakos aus dem Wege geräumt. Aber auch diesmal gelangte das von den Wogen hin und her getriebene Staatsschiff (Alk. 30. 119) nicht in den Hafen. Die Verbündeten zerfielen, Alkäos verfolgte den Pittakos mit bitteren Angriffen; auch von seinen Invektiven gegen die Kleanaktiden (35 b), doch wohl ein Adelsgeschlecht, ist die Rede. Pittakos war nicht adliger Herkunft (Alk. 87), aber mit einer Tochter des Tyrannen Penthilos vermählt (Diog. Laert. I 81). Im Kriege mit Athen um Sigeon (u. S. 596) hatte er durch einen Sieg im Zweikampf hohes Ansehen gewonnen. So wählte ihn das Volk, um dem ununterbrochenen Hader ein Ende zu machen und die Stadt von den sich zerfleischenden Adelsfaktionen zu befreien, zum absoluten Herrscher auf zehn Jahre, ähnlich wie Tynnondas auf Euböa, Solon in Athen und später Aristarchos in Ephesos (o. S. 571). Aristoteles bezeichnet diese Stellung mit dem Titel des »Äsymneten« (o. S. 313), Alkäos nennt den Pittakos »Tyrannen« (fr. 87), ein Volkslied (DIEHL VI p. 201 Nr. 30) »König des großen Mytilene«. Pittakos ergriff das Regiment mit fester Hand. Die Gegner, darunter Alkäos und sein Bruder Antimenidas, und ebenso Sappho, die adlige Dichterin (chron. par. 36), mußten in die Verbannung gehen; Antimenidas nahm beim babylonischen König Kriegsdienste. Aber Pittakos war ein hochherziger Bürger, der den unsicheren Glanz der Tyrannis verschmähte. Er wurde der Gesetzgeber von Mytilene. Außer einer Bestimmung des Obligationenrechts (o. S. 526) kennen wir von seinen Gesetzen nur die Beschränkung der Trauerfeierlichkeiten und die charakteristische Satzung, daß im Rausche begangene Verbrechen strenger bestraft werden, als wenn sie in nüchternem Zustand verübt sind – also auch hier die Durchführung der strengen Bürgerzucht im Gegensatz zu den Gelagen des Adels846. Die Verfassung hat er nicht geändert. Nach Ablauf der Frist legte er sein Amt nieder. Damit scheint eine dauernde Beruhigung eingetreten [588] zu sein. Auch den Verbannten wurde die Heimkehr gestattet; Alkäos und Sappho sind nach Mytilene zurückgekehrt. Die Zeit dieser Ereignisse fällt in die ersten Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts; eine genauere chronologische Bestimmung ist unmöglich847.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 586-589.
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