Parteikämpfe in Theben. Intervention in Thessalien und Makedonien

[422] Seit dem Siege von Leuktra hat Epaminondas gestrebt, Theben zur herrschenden Macht in Griechenland zu erheben. Seine Individualität ist in dem Wust moralisierender Anekdoten, die den Hauptteil unserer Überlieferung über ihn bilden, nicht vollständig faßbar; daß er aus demselben Holz geschnitten war wie die Männer, welche vor ihm nach demselben Siegespreis gegriffen hatten, zeigte sich, sobald er in Theben zu einer führenden Stellung gelangte. Mochte er durch die Reinheit seiner Gesinnung und seinen Patriotismus, dem alle persönlichen Interessen fern lagen, als Mensch einen Alkibiades, Lysander, Agesilaos weitaus überragen, so war doch das Ziel das gleiche. Deshalb war für ihn die volle Niederwerfung Spartas die nächste Aufgabe der thebanischen Politik; ihr dienten die beiden Feldzüge in den Peloponnes. Aber vom spezifisch thebanischen Standpunkt aus gab es näherliegende Aufgaben; was auch Epaminondas sagen mochte, der eigentliche Feind war jetzt nicht mehr Sparta – denn daß dieses je wieder die volle Herrschaft über den Peloponnes erlangen und gar Theben noch einmal gefährlich werden könne, war fortan völlig ausgeschlossen –, sondern, wie man dort mit dem Scharfblick des Hasses sofort erkannt hatte, Athen, das mit seinen Ansprüchen auf die See und die Beherrschung Euböas und der thessalisch-makedonischen Küsten Böotien umklammerte und nicht aufkommen ließ; das nächste Objekt einer erfolgreichen Expansion aber war nicht der Peloponnes, sondern Thessalien. Das hat Pelopidas erkannt, in dem sich überhaupt das eigentliche Thebanertum viel mehr verkörpert hat als in Epaminondas739. Während dieser im Sommer 369 zum zweiten Mal in den Peloponnes zog, ging Pelopidas nach Thessalien (u. S. 426). – Zu den Gegensätzen in der äußeren Politik kamen die der inneren. Die alte oligarchische Partei hatte zwar noch heimliche Anhänger in der Stadt, und in [423] den Landstädten war die Opposition gegen den Einheitsstaat nach wie vor lebendig, wenn sie sich auch nicht zeigen durfte; aber ihre Führer, soweit sie noch lebten, waren aus ganz Böotien verjagt und zu den Feinden geflüchtet. Die Thebaner hatten sie geächtet und brachten sie um, wo immer sie in ihre Hände fielen740. Epaminondas wollte von diesem Terrorismus nichts wissen. Die Exulanten hatten ihm zum Teil früher näher gestanden als die jetzt herrschenden Demagogen; er ließ es geschehen, daß die gefangenen Böoter sich für Fremde ausgaben und gegen Lösegeld entlassen wurden wie die übrigen Gefangenen. Im Gegensatz zu Epaminondas war in Theben die radikale Demokratie friedlich gesinnt; sie wollte zunächst das Leben genießen und sah keinen Anlaß zu den fortwährenden neuen Kriegen mit ihren Ansprüchen an Leben und Steuerkraft der Bürger. Ihr Führer war der Demagoge Menekleidas, der ehemals bei der Befreiung mitgewirkt, jetzt aber auch mit Pelopidas sich überwerfen hatte741: gegen ihn spielte er Charon (o. S. 364. 381) als den eigentlichen Befreier und den ersten Sieger über die Spartaner aus. Als Epaminondas im Herbst 369 aus dem Peloponnes zurückkehrte, ohne neue Erfolge heimzubringen, brach der Sturm los; er wurde mit seinen Kollegen vor Gericht gestellt, sei es, weil sie bei dem Winterfeldzug ihre Kompetenz überschritten hätten, wie der gewöhnliche Bericht lautet, sei es, wie Diodor erzählt, weil er in den Kämpfen am Isthmos seine Erfolge nicht ausgenutzt habe; auch daß die Arkader jetzt begannen, sich von Theben abzuwenden, mochte ihm zur Last gelegt werden. Die Männer zum Tode zu verurteilen, denen Theben seine Errettung aus tiefster Not und seine gegenwärtige Größe verdankte, wagte das Gericht doch nicht; aber Epaminondas und Pelopidas wurden vom Kommando entfernt und durch neue Böotarchen ersetzt742. [424] Die Folge war; daß Theben im J. 368 an den Kämpfen im Peloponnes nicht teilnahm (o. S. 421f.).

In Thessalien waren nach Iasons Ermordung zunächst seine beiden Brüder Polydoros und Polyphron gemeinsam zu Herzögen bestellt worden; doch starb der erstere schon nach wenigen Tagen, wahrscheinlich von dem Bruder umgebracht, und dieser wurde im nächsten Jahre (369) von Polydoros' Sohn Alexandros erschlagen. Bereits Polyphron hatte ein Schreckensregiment begonnen, in Pharsalos den Polydamas (o. S. 383) und acht seiner vornehmsten Anhänger getötet und in Larisa die Adligen verjagt. Alexander, der jetzt das Herzogtum erhielt und Iasons Tochter Thebe zwang, seine Gemahlin zu werden, fuhr damit fort; während Iason die Parteien hatte versöhnen und seinen höheren Zielen dienstbar machen wollen, trat jetzt der ursprüngliche Charakter der Tyrannis von Pherä als einer auf die revolutionierten Massen sich stützenden Gewaltherrschaft wieder deutlich hervor743. Der verjagte Adel von Larisa, geführt von den Aleuaden, suchte Hilfe in Makedonien, wo [425] vor kurzem auf Amyntas III. sein Sohn Alexander II. gefolgt war744. Dieser war rasch zur Hand; er besetzte Larisa und gewann auch Krannon, ohne daß der Herrscher von Pherä etwas dagegen tun konnte. Aber der makedonische König behielt die Städte für sich745. Die Folge war, daß der Adel aus beiden Teilen Thessaliens sich jetzt an Theben wandte. Noch im J. 369 rückte Pelopidas in Thessalien ein746. Gegen Alexander von Pherä wagte er keinen Kampf; er suchte zwischen ihm und seinen Untertanen zu vermitteln und tat nichts, als der Tyrann unwillig die Konferenz verließ. Dagegen besetzte er Larisa ohne Kampf; denn in Makedonien hatte sich inzwischen gegen Alexander Ptolemäos von Aloros erhoben, der Buhle der Eurydike, der Mutter des Königs. Beide Parteien riefen Pelopidas um Hilfe an; dieser vermittelte zugunsten des legitimen Königs und schloß mit ihm einen Vertrag. – Aber dieser Erfolg war nicht von Dauer. In Thessalien griff Alexander von Pherä gleich nach Pelopidas' Abzug von neuem um sich; und in Makedonien ließ Ptolemäos den König Alexander bei einem Gastmahl ermorden (368 v. Chr.)747, heiratete die Eurydike und machte sich zum Regenten im Namen ihrer jüngeren, noch unmündigen Söhne Perdikkas und Philippos. Jedoch gegen ihn erhob sich ein Verwandter des Königshauses, Pausanias, und brach, offenbar unterstützt von den Chalkidiern, von Osten her mit einem starken Heer in Makedonien ein; ein großer Teil des Volks fiel ihm zu. Da wandten sich Ptolemäos und Eurydike an Iphikrates, der gerade mit einigen athenischen Schiffen an der Küste stand, um zu versuchen, ob er nicht Amphipolis wieder gewinnen könne; die Königin führte ihm ihre Knaben zu und berief sich darauf, daß Amyntas III. den athenischen Feldherrn einmal zum Sohne angenommen hatte [426] (o. S. 385, 2). Iphikrates hat denn auch den Pausanias zum Lande hinausgeschlagen748. Aber die Hoffnung, dadurch Makedonien für Athen zu gewinnen, erfüllte sich nicht; vielmehr blieb jetzt auch der Friedenspartei, die inzwischen in Theben ans Ruder gekommen war, nichts übrig als zu intervenieren. Ein Heer freilich entsandte sie nicht; sie hoffte durch diplomatischen Druck auszukommen und schickte Pelopidas und Ismenias als Gesandte. Ein Söldnerkorps, das diese in dem von Alexander von Pherä abgefallenen Pharsalos sammelten, trat zu Ptolemäos über; aber diesem selbst war Theben ein willkommenerer Bundesgenosse als Athen, dessen Ansprüche auf Amphipolis er nicht anerkennen wollte. Daher schloß er mit Theben ein Schutz- und Trutzbündnis und gab ihm außer seinem Sohn Philoxenos und 50 makedonischen Adligen den jungen Prinzen Philippos als Geisel749.

Auf dem Rückweg machte Pelopidas den Versuch, Pharsalos mit Hilfe seiner Parteigänger zu besetzen, um sich der Familien und der Habe der abgefallenen Söldner zu bemächtigen. Aber Alexander von Pherä rückte mit einem Heere heran; Pelopidas und Ismenias, auf das Ansehen Thebens vertrauend, betraten sein Lager zu neuen Verhandlungen; indessen der Herrscher nahm beide gefangen und besetzte Pharsalos750. Jetzt war Theben gezwungen, ein Heer nach Thessalien zu schicken, während Alexander mit Athen ein Bündnis abschloß751. Die neuen demokratischen Feldherrn [427] der Böoter zeigten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Sie hatten zwar ein starkes Heer, aber sie gerieten durch Alexander und die Athener unter Autokles in arge Bedrängnis und wären schließlich vernichtend geschlagen worden, wenn ihre eigenen Truppen ihnen nicht den Gehorsam aufgesagt und dem Epaminondas, der als Soldat mitgezogen war, den Oberbefehl übertragen hätten. So wurde wenigstens das Heer gerettet. In Theben erkannte man, daß man Epaminondas nicht entbehren könne; die unfähigen Böotarchen wurden in eine Geldstrafe verurteilt und Epaminondas wiedergewählt. Im nächsten Jahre, 367, rückte er aufs neue in Thessalien ein. Einen energischen Angriff durfte er freilich nicht wagen, solange die Gesandten in der Hand des Tyrannen waren; aber durch geschickte Operationen gelang es ihm, Alexander so einzuschüchtern, daß er einen Waffenstillstand schloß und Pelopidas und Ismenias freigab. Auch Pharsalos scheint er herausgegeben zu haben. Im übrigen aber schaltete er in Thessalien ungehinderter denn zuvor752; gegen seine Gegner und die Anhänger Thebens ging er mit Strafgerichten vor, bei denen er der Neigung zu Martern und grausamen Exekutionen freien Lauf ließ. In Skotussa im pelasgischen Binnenlande rief er die Bevölkerung zu einer Versammlung ins Theater und ließ sie insgesamt niederhauen. Nicht viel anders wurde Meliböa an der magnesischen Küste behandelt und sonst jede Bewegung durch Garnisonen niedergehalten. Daß er eine brutale und gemeine Natur war, unterliegt, keinem Zweifel; im übrigen aber haben bald darauf die Thebaner in Orchomenos und früher, während des Peloponnesischen Kriegs, und später, gegen Sestos, die Athener in den abgefallenen Städten nicht viel besser gehaust.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 422-428.
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