Du, Duzen

[132] Du, Duzen. Unter diesem Wort mögen einige Andeutungen über die Art der persönlichen Anrede in älterer Zeit Platz finden. Die gotische Sprache kennt wie die griechische und lateinische bloss die naturgemässe Anrede der Einzelperson in der Einzahl: hails thiudans! später noch altdeutsch: heil herro, heil liebo! Die erste eingreifende Verrückung des Numerus beim Pronomen stammt aus den königlichen Kanzleien; in Nachahmung des römischen oder byzantinischen Geschäftsstiles bezeichneten die deutschen Könige Theoderich, Pipin, Karl und die folgenden ihre imperatoria Majestas dadurch, dass sie von sich im Plural schrieben. Allmählich drang dieser Plural vor in die Schreiben der Bischöfe, Äbte, Grafen u. dgl. Das geschah also in der ersten Person. Im 8. und noch mehr im 9. Jahrh. ging dieser Plural in die Anrede, also in die zweite Person über, das Ihrzen der Könige wird geläufiger. Im Waltharilied redet die Hunnenkönigin Ospirin ihren Gemahl mit vos an, ebenso Waltharius den König, während Hagen, Gunther und alle kämpfenden Helden sich duzen. In deutscher Sprache redet zuerst Otfried den Bischof Salomon in seiner Widmung der Evangelienharmonie mit ir an. Unter dem ganzen Volk hatte sich aber das Ihrzen der Könige und Fürsten schwerlich schon verbreitet. In den höfischen Gedichten des 12. und 13. Jahrh. ist das majestätische Wirzen überall gemieden, der Fürst spricht mit ich; dass die geistlichen Gedichte das du Fürsten gegenüber anwenden, ist Nachahmung der biblischen Anrede. Den weltlichen Gedichten ist, wo sie ritterlichen Stoff behandeln, das Ihrzen gemein, der Kaiserchronik, dem Alexander, der Eneit, dem Rother, Tristan etc. Im Annolied wird gesagt, dass man den Julius Cäsar, um ihn zu ehren, geihrzt habe. Die Hauptregeln der Anrede in der höfischen Zeit waren: unter Seitenverwandten, Könige und Königinnen manchmal ausgenommen, gilt du, Eltern gaben den Kindern du, der Vater empfing von Sohn und Tochter ir, die Mutter vom Sohn ir, von der Tochter du. Eheleute ihrzen sich. Liebende, minnewerbende nennen sich ir, gehen aber leicht in das vertrauliche du über; in Minneliedern wird meist du angestimmt. Der Geringere giebt dem Höhern ir und erhält du zurück. In der Kaiserchronik duzt der Papst den Kaiser und wird von ihm geihrzt. Zwischen Freunden und Gesellen gilt du; doch galt das ir als besonders höfisch, und wenn im Nibelungenliede die Ritter sich mehr, als sonst geschieht, duzen, so scheint das Überrest des volksmässigen Elementes. Frauen, Geistliche und Fremde erhalten ir, dafür sind aber Frauen und Geistliche gegen Geringere leicht höflicher als Männer und Weltliche. Personifizierte Wesen werden vom Dichter geihrzt, z.B. Frau Minne, Frau Abenteuer. Das gemeine Volk bleibt noch beim Duzen stehen. Leidenschaftliche, bewegte Rede achtet der Sitte nicht und zieht bald trauliches du, bald höfliches ir vor.

Im Laufe des 14., 15. und 16. Jahrh. blieben die Verhältnisse der Anrede ungefähr wie sie das 13. geregelt hatte, nur dass bei Königen, Fürsten und anderen Trägern hoher Würden im 15. und 16. Jahrh. die Titel Majestät, Fürstliche Gnaden, Strenge, Feste, Weisheit u. dgl. überhand nahmen und wenigstens beim Beginn der Rede das unmittelbare ir verhinderten. Zu jenen Titeln wurde, je nachdem sie im Singular oder Plural angewendet waren, das Verb, in der dritten Person des Singular oder Plural konstruiert: Euer kaiserliche Majestät hat befohlen, Euer fürstlichen Gnaden sind der Meinung; aber schon das beigefügte Possessiv Euer zeigt, dass daneben immer noch geihrzt wurde: aus der[132] dritten Person konnte im Verfolg der Rede in das direkte ir übergegangen werden. Solche Titel galten auch für den Fall der wirklichen dritten Person, beim Erzählen, und dann wurde das entsprechende Possessiv damit verbunden: Seine Majestät, Seine, des Fürsten, Gnaden, wobei man aber irrig durch den Plural des Verbums zu dem pluralen Possessiv ire, iro, Ihro verleitet wurde. IFG heisst: Ihro fürstliche Gnaden. Aus sog. »Rethoriken« jener Zeit lässt sich umständlich ersehen, wie es mit dem ihrzen und duzen gehalten wurde. Die Strassburger, 1511 gedruckte, erteilt folgende Anweisungen: der Kaiser duzt alle Geistlichen bis an den Papst, die Geistlichkeit ihrzt sich in ihren Schriften, ebenso ihrzen sich gleiche weltliche Fürsten und Grafen. Ritter werden von Fürsten geihrzt. Alle Edelleute duzen einander; wen sie nicht für edel halten, den ihrzen sie »zu merken dass er ein Burger oder nit tuzens von inen gnoss sei.« Keinem unedlen Mann, wie hoch verdient oder verfreit er sei, geziemt es einen Edelmann zu duzen, er sei ihm denn nahe verwandt. Kinder ihrzen ihre Eltern, doch die Kinder der Edelleute duzen. Eltern duzen ihre Kinder, solange sie nicht in einen höhern Stand treten. So stand es bis etwa in den Beginn des 17. Jahrh., um welche Zeit, wahrscheinlich nach französischem Beispiel, die Benennung Herr und Frau nicht mehr wie früher eine wirkliche Superiorität des Angeredeten über den Anredenden zu erkennen gab, sondern zu einem blossen Höflichkeitszeichen herabsank. In unmittelbarer Anrede liess sich nun freilich mit diesen Titeln das Pronomen ihr verbinden; allein man fing an, sie gleich den übrigen, höhern Titeln direkt in der dritten Person zu verwenden, und als sie immer weiter um sich griffen, bald mit ausgelassenem Substantiv das bare Pronomen er und sie, zu dem Verbum dritter Person konstruiert, statt der direkten Anrede zu setzen. Dieses er oder sie überbot die Höflichkeit des ihr, welches fortan eine blosse Mittelstufe der Vertraulichkeit oder Geringschätzung abgab, während du die unterste Stufe ausdrückte.

Eine neue Verschraubung der natürlichen Anredeverhältnisse wurde gegen den Schluss des 17. Jahrh. ersonnen, die mit der bisherigen eine Zeitlang zu kämpfen hatte, aber ungefähr zwischen 1730–1740 den Sieg davon trug und durch den jetzt mächtig eintretenden Aufschwung der Prosa befestigt wurde. Als die feinste Höflichkeit kam nämlich auf, dass man er und sie der dritten Person aus dem Singular in den Plural rückte, wonach sich denn auch das Verbum zu richten hatte. Man war also von dem du auf das ihr, von dem ihr zurück auf den Singular er und sie, von ihnen wiederum auf den Plural sie gelangt und hatte die zweite Person statt du bist anzureden: sie sind! Die ersten Spuren dieses pluralen sie erscheinen zwischen 1680 und 1690, es ist ein Ausfluss des damals beginnenden à la Mode-Stutzertums. Daneben liess man übrigens die älteren Stufen der Höflichkeit, ihr und er oder sie auch nicht fahren, nur dass sie mit der Zeit ihre Bedeutung etwas änderten. Um 1780 stand es folgendermassen: der Edelmann erzte seinen Gerichtshalter und Pfarrer, Friedrich d. Gr. seine höheren Civil- und Militärbeamten, der Amtmaun den Büttel, der Pfarrer den Küster, der Schulmeister den Schüler, der Schwiegervater den Eidam (Herr Sohn), der Ehemann siezte (Singular) seine Frau in vertraulicher Laune (höre se, bestelle sie mir); in der Schweiz redeten gebildete Mädchen den Fremden mit er an (er tanzt wohl gern?), ehrendes er wurde dem Handwerksmeister zu teil, Plural sie etwa nur Goldschmieden,[133] Uhrmachern Barbieren, Wirten. Ihr bekamen Handwerksgesell, Fuhrmann, Gärtner, Soldat, Bauer, Knecht und Magd; du war für alle Dienstboten ein Zeichen längerer Vertraulichkeit. Sie erhielten alle, die vom Anredenden weder abhängig noch ihm näher vertraut waren. Einzelne ländliche Bevölkerungen hielten wie heute noch am alten du fest. In die edle Poesie fand sie keinen Eingang, wohl aber ihr und er, Goethes Hermann ihrzt seine Eltern, in Voss' Luise erzt der Pfarrer den Schwiegersohn. Nach Grimms Grammatik, IV. 288 ff.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 132-134.
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