Fahrendes Volk

[170] Fahrendes Volk. Der im Mittelalter vielgenannte Stand der Fahrenden, die um Lohn ihre Künste aufführten, ist den Deutschen ursprünglich fremd; denn die alten deutschen Sänger, ob sie schon auch ein Wanderleben nicht verschmähten, und sich wohl auch als Boten gebrauchen liessen, sangen nicht um Gut und und Geld; auch die Dichter und Meister der höfischen Zeit, wenn sie schon oft gezwungen waren, mit ihrer Kunst ihr Brod zu suchen, sind keine Fahrenden: ihre Kunst adelte sie. Vielmehr liegt der Ursprung der Fahrenden in den römischen Gauklern und Mimen, joculatores, histriones, thymelici, die sich in die germanische Welt hinein erhielten. Im südlichen Frankreich gediehen diese Banden am zahlreichsten, von da aus fanden sie den Weg nach Deutschland, wo man besonders in den Glossen ihre Namen findet: spilliman, scurra, mimus, histrio, thymelicus scenicus, tûmâri, sprangâri, d.h. Spielleute, Possenreisser, Tänzer, Springer u. dgl., nie Sänger oder Harfenspieler; auch Weiber, spilwîp, fand man unter ihnen, die sich schlechten Rufes erfreuten. War diesem Volke jedoch die Poesie noch längere Zeit verschlossen, so nahmen sie sich doch bald der Instrumentalmusik an, sie wurden spilman oder spilliute im engern Sinne. Zu den Flöten, Lauten und Pauken, die sie zu ihren Tänzen brauchten, traten mit der Zeit Harfen, Fideln und Geigen, später Rotte, Laute, Querpfeife, Dudelsack, Drehorgel, Horn, Trompete, Posaune und Trommel. Noch weitem Boden gewann dieser Stand dadurch, dass sich leichtsinnige Geistliche und Mönche unter sie mischten; als Vaganten (siehe diesen Artikel) lebend, dichteten sie volksmässig empfundene und gedachte Lieder in lateinischer Sprache, wozu ihnen einige Kenntnis der antiken Dichterwelt und der kirchlichen Poesie und Musik zu statten kam. Von ihnen lernten die niederen Spielleute Gesang und Dichtung in den Kreis ihrer bisherigen Kunstübungen einzuziehen. Dadurch entsand eine Spaltung in ihrem Stande. Die besseren unter ihnen traten zu den adligen Minnesängern als Begleiter ihrer Gedichte mit Fiedel oder Rotte in ein näheres Verhältnis. Auch eigene Dichtungen, wie die Legende vom heiligen Oswald, die erzählenden Gedichte von Rother, Salomon und Morolf schreibt man ihnen zu, in roher aber lebendiger Form, zum Teil in roher und gemeiner Auffassung geschrieben; mehr aber gaben sie sich ab mit der Pflege schon vorhandener Geschichten und Schwänke, aus römischen, byzantinischen und morgenländischen Quellen.

Die Masse der Fahrenden und Gehrenden jedoch blieb bei ihren niedrigen Künsten stehen. Von ihnen spricht der Kanzler, ein Minnesinger der späteren Zeit:


Mannic herre mich des vrâget,

dur waz der gernden sî sô vil;

ob in des niht betrâget (verdriesst),

dem wil ich betiuten, ob ichz kann,

wie ez um die gernden sî:

Ein gerader man der triuget,

der ander kan wol zabelspil,

der dritte hoveliuget,

der vierte ist gar ein gumpelman,

der vünfte ist sinnen vrî,

so ist der sechste spottes vol,

der sibende kleider koufet,

der ahte vederliset wol (schmeichelt),

der niunde umbe gâbe loufet.

der zehende hât ein dirne,

ein wîp, ein tohter, unbehuot;

den gebent niuwe unde virne (d.h. neue und alte Kleider)[170]

die herren durh ir toerschen muot:

sie gebent durh kunst niht guot.


Diese fahrenden Leute der niedern Art, varndez volc, varndiu diet, varnde liute, fanden sich überall ein, wo es etwas zu verdienen gab, besonders bei Festen. Sie verstanden sich auf Seiltänzerstücke, Spiele mit Marionetten, Messerwerfen, Becken mit Stecken auffangen, Steine zerkauen, Feuer fressen und aus dem Munde blasen. Sie ahmten die Stimme der Nachtigall, des Rehs, des Pfaues nach, wirkten als Kunstreiter. Manchmal gab es für sie spilhûs, theatra. Rechtlich standen sie tief; sie hatten kein Recht und keine Forderung an Busse. Der Schwabenspiegel enterbt den Sohn, der gegen seines Vaters Willen Spielmann wird, und erklärt die Spielleute für rechtlos; die Stadtrechte verweigerten ihnen den Zutritt oder zwangen sie zu öffentlichen Arbeiten. Man nahm an, sie seien dem Teufel verschrieben. Haar und Bart schoren sie nach alter Art unfreier Leute. Zu den Fahrenden im weitern Sinne gehören die Bettler, fahrende Schüler, Kessler, Zigeuner, Bettelmönche oder Stationierer, Landsknechte und Wallfahrer. Weinhold, deutsche Fr. VIII.Schultz, Höf. Leben, I, VI.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 170-171.
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