Musik

Fig. 101. Gregorianische Buchstabennotierung.
Fig. 101. Gregorianische Buchstabennotierung.
Fig. 102. Neumenotierung.
Fig. 102. Neumenotierung.
Fig. 103. Hucbaldsche Buchstabennotierung.
Fig. 103. Hucbaldsche Buchstabennotierung.
Fig. 104. Hucbaldsche Liniennotierung.
Fig. 104. Hucbaldsche Liniennotierung.
Fig. 105. Neumen mit c- und f-Linien.
Fig. 105. Neumen mit c- und f-Linien.
Fig. 106. F-, C- und G-Schlüssel.
Fig. 106. F-, C- und G-Schlüssel.
Fig. 107.
Fig. 107.
Fig. 108.
Fig. 108.
Fig. 109. Johanneshymne.
Fig. 109. Johanneshymne.
Fig. 110.
Fig. 110.
Fig. 111. Melodienfabrikation.
Fig. 111. Melodienfabrikation.
Fig. 112. Choralnoten.
Fig. 112. Choralnoten.

[674] Musik. Die ältesten Nachrichten, welche wir über die Deutschen durch einige Schriftsteller des klassischen Altertums erhalten, bestätigen, dass unsere Vorfahren früh schon Poesie und Gesang liebten und übten. Tacitus erzählt uns von dem sogenannten Barditus, dem Schlachtgesang der Deutschen, der durch Vorhalten der Schilde vor den Mund noch wilder und furchtbarer tönend gemacht wurde und nach dessen Wirkung sie den Ausgang des Treffens glaubten bestimmen zu können. Auch die Instrumentalmusik hatte bei den alten Germanen schon frühe Eingang gefunden. Selbstverständlich waren es anfangs nur schallverstärkende Lärm- oder Klinginstrumente: Trommeln, Cymbeln und höchstens noch das weithinschallende Horn des Stieres. Wie unselbständig die Musik in den alten deutschen Dichtungen auftritt, beweist, dass »singen und sagen« noch bis ins 13. Jahrhundert gleichbedeutend war. Der altdeutsche Gesang erscheint vorwiegend als Vollender der poetischen Form der Sprache; er bildet die Hauptstützen der Versbildung, deren Hauptregel das Gesetz der Betonung wurde. Im Accent treten einzelne Töne unterscheidbar heraus und diese Betonung der sogenannten Liedstäbe musste zur Einführung gewisser Intervalle in der Tonhöhe führen, welche messbar waren. Höher darf man sich den Anteil, den der Gesang an der Poesie nahm, wohl kaum denken, und es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Römer, welche ihre Musik grösstenteils schon ausgebildet von den Griechen erhalten hatten, von der Gesangkunst der Deutschen nicht sonderlich erbaut waren. Zugleich lernen wir aber auch die Mühe würdigen, die es den christlichen Bekehrern verursachte, unsere Vorfahren für den Kirchengesang zu erziehen.

1. Musik der ersten christlichen Zeit. Über die früheste Zeit, in welcher das Christentum in Deutschland Eingang fand, sind wir wenig unterrichtet. Die Verheerungen der Völkerwanderung liessen den Samen desselben zu keiner gedeihlichen Fortentwicklung unter den Deutschen kommen. Vollkommen zur Herrschaft gelangte dasselbe erst unter seinem ersten Kaiser, Karl dem Grossen. Durch ihn erst gewann das Christentum in deutschen Landen festen Fuss, sodass eine vollständige Umgestaltung deutscher Kultur, Kunst und Sitte erfolgen konnte. Ganz besondere Sorgfalt aber verwandte Karl auf die Pflege des[674] Kirchengesanges. Derselbe war in Italien inzwischen schon zu einer bedeutenden Entwicklung gelangt.

Wie die bildenden Künste hatte auch dort die Musik das Erbe des Altertums angetreten, aber statt einer verständnisvollen Fort- und Ausbildung des Überlieferten, trat eine Vereinfachung, eine mehr kindlich naive Auffassung des Gegebenen ein. Wie der erste christliche Kirchengesang entstanden, wissen wir nicht: alte griechische und römische Melodien, jüdischer Tempelgesang und kunstloser Naturgesang werden vereint erklungen haben, bis sich nach und nach eine feste Norm ausbildete. Ohne Zweifel sang vorerst die ganze Gemeinde, denn noch der Bischof Ambrosius berichtet: »Freilich befiehlt der Apostel, dass die Weiber in der Kircheschweigen sollen, aber Psalmen singen sie sehr gut. Die süssen Stimmen der Jünglinge und Mädchen klingen lieblich zusammen, ohne dass es Gefahr bringt.« – Allein bald sah sich die Kirche doch veranlasst, der Gemeinde das Recht des allgemeinen Gesanges zu entziehen; das Kirchenjahr, das sich nach und nach gebildet hatte, verlangte auch eine bestimmte einheitliche Regelung des Gesanges, und so befahl das Konzil von Laodicea (367): es solle kein Anderer in der Kirche singen, als die dazu verordneten Sänger von ihrer Tribüne. Wir erfahren denn auch, dass bereits unter den Päpsten Sylvester und Hilarius eigene Sängerschulen entstanden. Indessen vermochte dies alles nicht, den Einfluss und die Nachwirkungen der antiken Musik zu verwischen; im Gegenteil wurde der letzte Vertreter derselben, Boëthius, das Dogma aller mittelalterlichen Musikgelehrten. Derselbe hatte ein grosses schwerverständliches Buch: De musica hinterlassen. Darin erscheint er als gelehrter Redactor der musikalischen Sätze des Pythagoras, Aristoxenos, Ptolemäus etc. Die Musik ist ihm ein Theil Mathematik. Die Grundlage seines Systems bildet eine Reihe von vier Tönen im Umfange einer reinen Quarte: das Tetrachord. Dasselbe enthält stets zwei Ganztonintervalle und ein Halbtonintervall. Je nach Stellung dieses Halbtonintervalls in der Aufeinanderfolge der vier Töne heisst das Tetrachord dorisch (wenn der Halbtonschritt in der Tiefe liegt), phrygisch (wenn er in der Mitte liegt) oder lydisch (wenn er in der Höhe liegt). Setzt man nun zwei phrygische Tetrachorde derart zusammen, dass vom höchsten Ton des tiefen Techrachords zum tiefsten Ton des höhern Tetrachords ein ganzer Tonschritt ist, so erhält man eine Oktavengattung, in welcher die Töne in folgenden Intervallen aufeinanderfolgen:


Ton (I II III IV) (V VI VII VIII)

Interv. 1 1/2 1 1 1 1/2 1.


Diese Tonreihe nahm man nun als Fundament alles Kirchengesanges in die christliche Musik herüber. Da indessen der Wunsch, bei gewissen Gelegenheiten oder einzelnen Texten durch höhere heller klingende Intonation eine charakteristische Wirkung hervorzubringen, fühlbar werden mochte, und auch die nächsthöhern Oktavenreihen den menschlichen Singorganen nichts Aussergewöhnliches zumuteten, so wurden auch diese noch dazu genommen, so dass man vier für sich nach oben und unten abgegrenzte Tonreihen von folgender Gestalt erhielt:


(Ton VIII ist gleich Ton I, nur eine Oktave höher, also):[675]

Musik

Ob bei Aufstellung der Vierzahl irgend welche jener Zeit eigentümliche Symbolik mitgespielt hat, bleibe dahingestellt; dagegen darf nicht unterlassen werden, zu betonen, dass die sich durch Verschmelzung dieser vier Oktavenreihen erzielende Tonreihe:

Musik

als kirchliches Gesetz betrachtet und jede Änderung oder Einschiebung fremder Töne strenge untersagt wurde.

Indessen ergab sich doch bald das Bedürfnis, an dieser Strenge zu rüttteln, besonders als man anfing mehrstimmig zu singen und die Begleitung der Melodie in Quartenläufen beliebt wurde.

Betrachtet man nämlich fortschreitend die Tonreihe, so wird man finden, dass I u. IV, II u. V, IV u. VII, V. u. Musik u.s.w. immer je 21/2 Töne auseinanderliegen; einzig der Tonschritt III und VI umfasst ein Intervall von drei ganzen Tönen. Das war eine übermässige Quarte und klang unrein, und man wusste sich nicht anders zu helfen, als dass man den Ton VI um einen Halbton erniedrigte und die Strenge der diatonischen Skala zerbrach. Um das zu vermeiden, zog man es vor, diesen Tonschritt als »diabolus in musica« einfach zu verbieten.

Die vier Oktavenläufe oder Tonarten scheinen indessen nicht genügt zu haben, und schon der 590 zum Papst erwählte Gregor der Grosse suchte dem Bedürfnis nach grösserer Mannigfaltigkeit abzuhelfen, indem er aus jedem der vier Kirchentöne, die man nun »Authentische« nannte, je einen sogen. »Plagalen« bildete. Dies geschah derart, dass er die vier obern Töne eines jeden Authentus dem gleichnamigen um eine Oktave tiefer versetzte, also: (Musik = Halbtonschritt)

Musik

Unter die erste plagale Tonreihe, als die mit dem tiefsten Ton beginnende, soll nun Gregor die Buchstaben A B C D E F G gesetzt und diese aufwärts in gleicher Reihenfolge wiederholt haben, so dass die acht Kirchentonarten nun hiessen:


D E F G a b c d

A B C D E F G a

E F G a b c d e

B C D E F G a b

F G a b c d e f

C D E F G a b c

G a b c d e f g

D E F G a b c d


Es wurde schon vorhin bemerkt, dass der Tonschritt III bis VI oder, wie wir ihn jetzt nennen können, F bis b, unrein klang und man sich deshalb veranlasst sah, das b[676] um einen halben Ton zu erniedrigen. Demgemäss führte man auch zwei Zeichen hierfür ein, das b molle oder rotundum: ♭ und das b quadrum oder durum: ♮, woraus nachmals unser h entstanden ist.

Damit war das Tonsystem für das ganze Mittelalter geschaffen. Die starre Diatonik herrschte beinahe unbeschränkt, Halbtonschritte gab es keine anderen als die zwei einmal angenommenen von E–F und von B quadratum zu C. Die enge Zusammengehörigkeit der authentischen und plagalen Tonarten, deren Verhältnis von den Schriftstellern des Mittelalters durch die Bezeichnung männlich und weiblich treffend charakterisiert ist, zeigt sich am deutlichsten darin, dass der musikalische Schwerpunkt, der Grund- oder Finalton beiden gemeinsam ist; die authentische Tonart hat ihn in der Tiefe, die plagale dagegen in der Mitte. Nach diesem Prinzip teilte man auch die Melodien in authentische und plagale ein, nämlich in solche, die sich vom Grundton bis zu seiner Oktave und zurück bewegen, und in solche, die von ihrem Grundton aus eine Quinte aufwärts und eine Quarte abwärts steigen, um schliesslich wieder zu dem mittleren Grundton zurückzukehren.

Gregor hatte sich indessen noch ein anderes Verdienst um die Musik erworben. Mit Eifer sammelte er die Gesangsweisen, welche sich nach und nach gebildet hatten, dichtete neue dazu und ordnete dieselben nach den Zeiten des Kirchenjahres. Was aber das Wichtigste war, er sorgte dafür, dass sie niedergeschrieben wurden. Dadurch entstand eine feste Norm, welche heute noch in der katholischen Kirche unter dem Namen Gregorianischer Choral als Ritualgesang befolgt wird. Dieses sogenannte Antiphonar liess Gregor sonderbarerweise nicht nach der von ihm erfundenen Tonschrift notieren, sondern bediente sich der mangelhaften Tonschrift der Neumen, Fig. 101 und 102, das sind gewisse über die Textessilben geschriebene Strichelchen, Häkchen, Punkte, Halbbogen und ähnliche Figuren. Vermutlich aus den Accenten der griechischen Schriftsprache entstanden, hatte diese Tonschrift zwar vor der Buchstabenschrift die Fähigkeit voraus,[677] Steigen und Fallen der Stimme anschaulich zu machen, worin der Keim unserer jetzigen Notenschrift liegt; allein die absolute Höhe des Tones oder die Grösse der Intervalle war nicht herauszufinden und die Neumen dienten sicherlich nur als Gedächtnisnachhilfe für den Sänger, der die Melodie auswendig kannte. Als die charakteristische Eigenheit des Gregorianischen Gesanges wird angenommen, dass er im Gegensatze gegen den metrischen, die Quantität der Silben nach antiker Art genau beobachtenden ambrosianischen Gesang, keine bestimmte Zeitdauer der einzelnen Töne angenommen, sondern es dem Sänger überlassen habe, nach Belieben zu dehnen und zu verkürzen. Dadurch aber war das Band gerissen, welches bis dahin die christliche Musik noch mit der antiken verknüpft hatte. An Stelle der früheren poetischen Metrik trat nun eine musikalische. Wo früher Länge und Kürze geherrscht, da führte jetzt Arsis und Thesis das entscheidende Wort. Dadurch aber war es zugleich ermöglicht, auf eine Silbe mehrere Töne fallen zu lassen; es entstand jener verzierte Gesang, der unter dem Namen: Vitalianischer bekannt ist, namentlich aber jene Jubellaute, von denen der Bischof Durandus erzählt, dass man das Alleluja von Alters her mit dem pneuma gesungen habe, welches pneuma eine unaussprechliche Freude des Gemütes über das Ewige ausdrücke.

Bis zu dieser Entwickelungsstufe war der Gesang gediehen, als Karl der Grosse erschien, die der Kultur widerspenstigen Völker bezwang und sie durch die Wohlthat einer höheren Bildung mit seiner Herrschaft dauernd auszusöhnen versuchte. Karl gründete Schulen im ganzen Umfange seines Reiches, von denen die zu Metz, Soissons, Fulda, Mainz, Trier, St. Gallen zu hohem Ruhm gelangten. Gleich den übrigen Lehrgegenständen wurde hier auch die Musik gepflegt. Mit Missvergnügen aber bemerkte Karl, dass sich im Kirchengesange Unterschiede einschlichen. Mehrmals liess er daher Sänger von Rom kommen, um durch ihr Beispiel die ungeübten Kehlen seiner fränkischen Sänger zu veredeln. So entstand namentlich in Metz eine berühmte Sängerschule, aber auch in St. Gallen sollte die Sangeskunst ungeahnt aufblühen. Der Grund zu dieser Blüte wurde gelegt durch Romanus, einen der zwei römischen Sänger, welche Papst Hadrian I. auf Wunsch Kaiser Karls nach Metz sandte, mit zwei authentischen Abschriften des gregorianischen Antiphonars versehen. Auf der Hinreise erkrankte Romanus und erreichte mit Mühe St. Gallen, wo er denn auch auf besondere Weisung Karls verblieb und mit ihm ein Exemplar des Antiphonars, welches noch heutzutage auf der St. Gallischen Stiftsbibliothek liegt. Von nun an begann ein reges künstlerisches Streben unter den St. Galler Mönchen, worüber uns Ekkehard IV. in seinem Casus St. Galli Ausführliches zu erzählen weiss. Besondere Verdienste um die Ausbildung der Musik erwarben sich die beiden Notker, Labeo und Balbulus, der letztere Erfinder einer neuen Kunstgattung, der sogenannten Sequenzen. Dieselben entstanden, indem man den langatmigen Vokalisen des Alleluja Worte unterschob und auf diese Weise in die wortlos gewesenen Melismen wieder Sinn und Verstand zu bringen suchte.

Dadurch kamen Dichtung und Musik in ein ganz neues Verhältnis. Die Arbeit des Musikers und Dichters trennte sich. Der erstere erfand Melodien für künftige mannigfach darunter unterzulegende Worte, der letztere dichtete zu bereits vorhandenen Melodien Texte. Notker Balbulus unterzog aber zugleich die bereits vorhandenen Jubilos einer Art Redaktion, indem er 50 davon[678] mit eigenen Namen bezeichnete und dazu neue dichtete.

Diese Melodien und Gesänge galten anderwärts als mustergültig und wurden mannigfach nachgeahmt, namentlich entstanden ähnliche Gesänge im Volke, welches dieselben teils beim Gottesdienste, teils bei Bittgängen, beim Kampfe u.s.w. anstimmte. Hierher gehören die beiden Dichtungen: Stabat mater und Dies irae.

So wirkte der gregorianische Gesang nach allen Seiten und strebte nach unbedingter Herrschaft, und wie die gelehrte Theorie in Boëthius eine gegebene Grundlage der theoretischen Musik, so fand die Praxis im Gregorianischen Gesange einen gegebenen Stoff zu musikalischer Übung, er wurde der cantus firmus, der Tenor, an dem nicht getastet werden durfte. Das Mittelalter hatte ein tiefes Bedürfnis nach einer Art Autorität, nach dem Dogma. So nahm es seinen Boëthius und den gregorianischen Gesang wie Dogmen hin; der letztere durfte aber gerade deshalb kein Produkt des menschlichen Geistes sein, er war inspiriert und damit von einer, keiner weitern Kritik unterliegenden Beglaubigung.

Neben der Gesangskunst wurde auch die Instrumentalmusik in St. Gallen eifrig betrieben. Das rauhe Klima begünstigte die Entwickelung der Gesangsorgane nicht in gleichem Masse, wie das der südlichen Länder, so dass der Diakon Joannes in seinem Leben des heiligen Gregor meint, die Alemanen und Gallier strengten sich vergebens an, den römischen Kirchengesang auszuführen und liessen von ihren ungefügen Kehlen nur ein donnerndes Gebrüll hören, welches dem Gepolter eines bergabrollenden Lastwagens gleiche. Allein, hatte die Natur den Deutschen den Wohlklang der südlichen Stimmen versagt, so war es dennoch der Norden, der gerade vermittelst seiner Instrumentalmusik, auf die er hingewiesen ward, dasjenige Element in die Musik einführen sollte, welches recht eigentlich als Unterscheidungsmerkmal der modernen und der antiken Musik gelten darf, die Mehrstimmigkeit.

2. Anfänge der Mehrstimmigkeit. Dieselbe existierte in der Instrumentalmusik schon lange, bevor man anfing, mehrstimmig zu singen. Das beweisen namentlich die alten Geigeninstrumente, die sogenannte Crota oder Rota, ein meist mit drei Saiten bespanntes Instrument mit flachem Steg und ohne die Seiteneinbuchtungen unseres Geigenkörpers. Durch das letztere war aber der Bogen gezwungen, zu gleicher Zeit über alle drei Saiten zu streichen, und so tönte denn neben der auf der ersten Saite gespielten Melodie der Grundton und die Quinte nach Art eines Dudelsackes mit. In ähnlicher Weise diente der Vielstimmigkeit das sogenannte Organistrum, von dem die Art, vielstimmig zu singen, ihren Namen erhalten sollte. Die Kunst des Organisierens, d.h. die Kunst, zu einer gegebenen Melodie eine zweite oder dritte Stimme zu singen, fand bald Eingang und Verbreitung, und schon im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung in dem flandrischen Mönche Hucbald einen wissenschaftlichen Vertreter. Hucbald nennt die Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes (organum oder diaphonie) einen »einträchtig zwiespältigen Gesang«. Derselbe aber wurde auf zweierlei Arten zustande gebracht; einmal derart, dass eine Stimme der ersten im Intervall einer Oktave, Quinte oder Quarte parallel folgte (Parallelorganum), andernteils derart, dass ein Sänger die rechte Melodie hielt (Tenor), während der andere mit fremden aber passenden Tönen die Melodie umspielte, am Schluss aber beide im Einklang oder der Oktave zusammentrafen (Schweifendes Organum). Beim letzteren erscheinen im Gegensatz zum[679] Parallelorganum im Durchgange auch andere Intervalle als Quinten und Quarten, nämlich Sekunden, Terzen u.s.w., sodass also schon in dieser frühen Zeit Dissonanzen wenigstens im stufenweisen Durchgange als zulässig erkannt wurden. An der herrlichen Wirkung seines Organum zweifelt Vater Hucbald keineswegs. »Singen ihrer,« sagt er, »zwei oder mehr mit bedächtiger und einträchtiger Strenge zusammen, jeder seine Stimme, so wirst Du einen lieblichen Zusammenklang aus dieser Vermischung der Töne entstehen sehen«.

Hucbald versuchte auch die Tonschrift zu verbessern. Schon vor ihm waren mannigfache Versuche gemacht worden, der Unsicherheit der Neumen durch eine andere Notation abzuhelfen. So hatte schon Romanus neben den Neumen noch andere Zeichen angebracht, die sog. Romanusbuchstaben. Über dieselben hat uns Notker Balbulus ein Verzeichniss hinterlassen. Sie haben dreifache Bedeutung: teils zeigen sie die Tonhöhe an, teils das Mass der Bewegung, teils sind es Vortragszeichen. Auf eine eigentümliche Erfindung führten die Romanusbuchstaben den Reichenauer Mönch Hermann Contractus († 1054) der auf den Gedanken kam, über den Text Buchstaben zu setzen, welche dem Sänger die Fortschreitung zum nächstfolgenden Intervall andeuteten, z.B. e (equaliter), t (tonus, Ganzton) D (Diatesseron), ∆ (Diapente) etc.

Hucbald nun probirte es vorerst mit einer, der alten griechischen nachgebildeten Notation. Er legte seinem System den Buchstaben F zu Grunde und, weil es für die vier Kirchentonarten vier Schlusstöne (finales) gab, erfand er vier verschiedene Varianten:

Musik

Zeichen, durch deren Umkehrung und Verdrehung er folgende Skala erhielt. Fig. 103.

Diese Tonschrift hatte aber, wie die Gregorianische, den Nachteil, dass sie das Steigen und Fallen der Stimme nicht versinnlichte. Er versuchte es daher mit einem Liniensystem, in dessen Zwischenräumen die Textessilben derart aufgeschichtet wurden,[680] dass die Tonintervalle von einer Silbe zur andern durch die Anzahl der zwischenliegenden Linien-Zwischenräume ersichtlich wurde. Zur besseren Orientierung setzte er ausserdem am Beginn jedes Spatiums die Buchstaben T (tonus = Ganzton) oder S (semitonus = Halbton). Allein diese Schreibweise hatte etwas ungemein Schwerfälliges und Unbehülfliches, seine Notenschrift blieb unbenutzt. Fig. 104.

Erst das folgende Jahrhundert sollte den Mann hervorbringen, der eine wirklich brauchbare Tonschrift aufstellte. Schon vor dessen Erscheinen hatte man in Italien quer durch die Neumen eine rote Linie gezogen, welche den Ton f bedeutete. Was darüber stand war höher als f, was darunter, tiefer. Später zog man noch eine gelbe oder grüne, welche den Ton c bedeutete. Statt die Linien zu färben, begnügte man sich auch, vorn an dieselbe den betreffenden Buchstaben zu schreiben. Hieraus sind die »Schlüssel« entstanden. Fig. 105 und 106. Dadurch hatte man viel gewonnen und der Weg war gebahnt, der auf unser heutiges Notensystem führen musste. Diesen Weg gefunden zu haben, ist das Verdienst des Benediktinermönches Guido von Arezzo aus dem Kloster Pomposa bei Ravenna. Statt der zwei Linien zog er deren vier und benutzte nicht nur die Linien, sondern auch die Zwischenräume zur Bezeichnung der absoluten Tonhöhe. Zugleich vereinfachte er auch die Zahl und Gestalt der Neumenzeichen, welche sich schliesslich, nach allerlei Modifikationen, in die modernen Notenzeichen umwandelten. So entstand einerseits die von Tinctoris erwähnte Fliegenfusschrift, welche in der That an die Füsse von Mücken erinnerte, andernteils die eigentümlich stilisierte Nagel- und Hufeisenschrift, die sich namentlich im Buchdruck lange behauptete. Fig. 107 und 108. Nach und nach aber schrumpften die Neumen auf den Punctus zusammen, der sich dann in die sog. Choralnote verwandelte.

Guido war aber nicht nur Theoretiker, sondern auch Praktiker. Um seinen Schülern das Tonmerken beizubringen, pflegte er ihnen beim Unterrichte die Johanneshymne: Fig. 109. einzuprägen. Das Liedchen schien dem lehrenden Guido besonders deswegen zweckmässig, weil seine sechs Verse nacheinander mit den sechs Tönen der Skala von c bis a in regelmässiger Folge anfingen: Ut fiel auf c, re auf d, mi auf e etc. Aus diesen Anfangsbuchstaben ut, re, mi, fa sol, la ist dann die sogenannte Solmisation entstanden. Guido's Skala umfasste 21 Töne, nämlich:

Musik

Diese teilte er nun in sieben sechsstufige Tongruppen, Hexachorde genannt, deren einzelne Töne mit den Silben ut re mi etc. bezeichnet wurden, derart, dass zwischen die Silben mi fa stets ein Halbtonschritt zu stehen kam. Selbstverständlich schliessen diese Hexachorde nicht, wie die Oktaven der modernen Musik aneinander – dies würde eine Reine von 42 Tönen ergeben haben –, sondern sie greifen ineinander ein. Eine vollständige Tonleiter von acht Tönen liess sich demnach nicht unmittelbar mit den Guidonischen Silben singen, sondern es mussten die Hexachorde gewechselt werden, man hatte zu mutieren z.B.:

Musik

Diese Mutation namentlich war eine erfolgreiche Übung, welche die Sängerknaben innerhalb des gesamten Tongebietes völlig heimisch machte. Mit der wachsenden Fülle[681] des musikalischen Darstellungsmaterials wurde die Solmisation indess zum »crux tenellorum puerorum«.

Als Gedächtnisnachhilfe beim Mutieren wurde vielfach die Guidonische Hand benutzt. Wahrscheinlich hatte einer seiner Schüler die Entdeckung gemacht, dass die Hand gerade soviel Glieder zählt, als das guidonische Tonsystem Töne, nämlich 19 von Musik das ♭ und Musik [682] nicht zugerechnet. Jedes Glied wurde nun zum Sitz eines Tones gemacht, das obere Glied des Daumens erhielt den tiefsten Ton Musik. Von da fuhr man herab, dann quer hinüber, am kleinen Finger hinauf, an den oberen Gliedern der folgenden drei entlang, am Zeigefinger herab u.s.w. im Kreise bis zum Ton Musik. Fig. 110.

Trotz aller Theorie stand es aber mit der Musik in diesem Zeitraum doch wohl recht böse. Sie wurde noch immer als das Produkt des rechnenden, kombinierenden Verstandes, nicht der Phantasie angesehen; sie brauchte nicht schön zu sein, wenn sie nur den Anforderungen einer imaginären Regelrichtigkeit entsprach. Höchst bemerkenswert in dieser Hinsicht ist das rein mechanische Verfahren, welches Guido zur Erfindung neuer Melodien vorschreibt und welches darin bestand, dass man jedem der fünf Vokale einen Ton der Tonleiter substituierte und dann unter die einzelnen Silben eines beliebigen Textes den ihrem Vokal entsprechenden Ton schrieb. Fig. 111.

3. Einführung der Mensuralmusik. Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit war in diesem Zeitraum noch nicht viel weiter gediehen als vorher. Man hatte noch immer seine Freude an Quinten- und Quartenparallelen; indessen bemerkt man doch, dass man anfing die begleitenden Stimmen in abweichender Weise zu führen, dem Cantus (der ursprünglichen Melodie) einen Discantus (eine abweichend begleitende Stimme) zuzugesellen. Die Kunst des Diskantierens wurde namentlich in Frankreich ausgebildet und es ergab sich dort statt des anfänglichen parallelen Gesanges der Stimmen schliesslich eine Gegenbewegung derselben, ja man scheute sich nicht, ganz verschiedene Melodien unter sich zu mehrstimmigen Sätzen zu verbinden. – Je mehr man aber im Zusammensingen mehrerer Stimmen Fortschritte machte, um so mehr musste sich auch das Bedürfnis geltend machen, dass die einzelnen Stimmen sich in gleich schnellen Tempi bewegten. Hierfür fehlte jedoch vorderhand jedwede Notenschrift. Der gregorianische Kirchengesang hatte es dem einzelnen überlassen, nach seinem Gutdünken den Zeitwert der einzelnen Noten zu[683] bestimmen. Dies musste aufhören, sowie verschiedenartige Stimmen so geführt werden sollten, dass sie vereinigt dem Gehör angenehm erklangen. Damit beginnt etwa in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts die Entwickelung der sogenannten Mensuralmusik. Der erste Schriftsteller, welcher über die beim »gemessenen Gesange« zu beobachtenden Regeln Auskunft giebt, ist Franco von Köln. Aus dem Punctus der Neumen hatte sich im Laufe der Zeit bereits der viereckige Notenkopf gebildet. Diesen nahm Franco als Grundlage für die Mensuralnoten. Vorerst glaubte man, mit zwei Noten auszukommen, mit der sogenannten longa (Punkt mit Strich) und der sogenannten brevis (Punkt), entsprechend den kurzen und langen Silben der antiken Prosodie, und es wurde nach den meist vorkommenden Versmassen, Trochäus und Jambus der dreiteilige perfekte Rhythmus herrschend, indem man eine Länge gleich zwei Kürzen annahm. Fig. 112. Erst im 14. Jahrhundert erscheint der zweiteilige Rhythmus, den man auch im Gegensatz zum dreiteiligen den unvollkommenen nannte. Indessen kam man mit diesen Notenwerten nicht aus, und schon Franco führte die doppelte Länge (maxima) und die halbe Brevis (semibrevis) ein. Etwa in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann man in Frankreich die Noten nicht mehr schwarz auszufüllen, sondern weiss zu lassen, wodurch die weisse Choralnote entstand. Zugleich versuchte man auch, die sogenannten Melismen, das sind die auf einer Textsilbe gesungenen, aus zwei oder mehr Tönen bestehenden Figuren in einem Zeichen darzustellen: es entstanden die Ligaturen (ligatura ascendens und descendens, obliqua, recta, etc.) Auch des Punktes bedienten sich schon die Mensuralisten und zwar des punctum augmentationis oder additionis, wenn derselbe den Wert der Note, hinter welcher er steht, um deren Hälfte verlängert, und des punctum divisionis, um anzuzeigen, dass eine Note von der halben Geltung zur vorhergehenden oder folgenden doppelwertigen gezogen werden solle. Ebenso wie die Töne mussten nun auch die Pausen bezeichnet werden. Dazu bediente man sich senkrechter, durch die Linie gezogener Striche, welche[684] je nach ihrer Länge die Zeitdauer ausdrückten. Endlich war es auch noch nötig das Tempo durch ein Zeichen zu bestimmen. Der vollständige Kreis wurde das Zeichen des Tempus perfectum, der nach rechts offene für das Tempus imperfectum. Bei verdoppelter Bewegung wurde der Kreis durchstrichen etc.

Nächst Franco von Köln haben das meiste Verdienst um die Ausbildung der Mensuralmusik Morchettus von Padua und Johannes de Müris. –

Hucbald, Guido und Franco hatten im eifrigen Studium und unter unendlichen Denkerqualen den Grund gelegt, auf welchem sich eine wahrhafte Kunstmusik aufbauen konnte; allein die Musik hatte in der bedenklichen Nähe der Arithmetik und Geometrie beinahe vergessen, dass sie von Haus aus eine schöne Kunst und dass es ihre Aufgabe sei, das Schöne in Tönen zu verwirklichen; sie begnügte sich, das mathematisch Richtige zu erreichen, bei dem nicht der ästhetische Sinn, sondern der Verstand das entscheidende Wort hatte.

Indessen war dafür gesorgt, dass die Musik nicht in spekulativer Wissenschaft aufgehen sollte.

4) Weltliche Musik. Die Kreuzzüge sollten auch auf die Musik neubelebend einwirken und ihr das verschaffen, was sie wieder zur wahren Kunst machte. Einesteils waren es die neuen Instrumente, welche die Kreuzfahrer aus dem Orient mit nach Hause brachten, andernteils aber machte sich der durch die Kreuzzüge geweckte Dichtersinn als lyrischer Gesang Luft, wo Wort und Melodie vereint erklangen, wo nicht die Schulregel eines Tonlehrers, nicht die profunde Wissenschaft des Mönches dareinzureden hatte, wo vielmehr nur der Drang des Gemütes das Wort in Liebes- und Frühlingsliedern führte und zugleich den rechten dazu gehörigen Ton fand. Unter dem lieblichen Himmel Südfrankreichs fand diese »fröhliche Kunst« ihre ersten glücklichen Vertreter. Die Höfe der Grafen von Toulouse, von Provence und von Barcelona waren Pflegestätten der Dichtkunst. Nach dem Erfinden nannte man im südlichen Frankreich die Dichter Trobadours. Als erster von ihnen wird Wilhelm von Poitiers genannt. Der Troubadour sang selten selbst, vielmehr hatte er kunstfertige, im Gesang und Spiel musikalischer Instrumente erfahrene Diener zur Seite, die Minstrels oder Jongleurs (Spassmacher), Leute von oft sehr untergeordnetem Range. Eine Ausnahmestellung unter den Troubadours nimmt Adam de la Hale ein, nach seinem Wuchs und seiner Vaterstadt: Der Bucklige von Arras genannt, indem er den Erfinder von Gesängen und den ausübenden Meister in seiner Person vereint. Er gehört zugleich zu den ersten Tonsetzern, welche vierstimmige Singstücke komponierten.

Derselbe Geist, der bei den romanischen Völkern die Troubadours hervorgerufen, fand bei den germanischen Stämmen Deutschlands seinen Ausdruck im sogenannten Minnegesang. Der deutsche Dichter aber hatte nicht den zweideutigen Jongleur, den Gaukler zum Gefährten; ebensowenig gehörten alle Minnesänger dem ritterlichen Stande an. Die nichtritterlichen Sänger hiessen Meister. Die Vortragsweise der Gesänge glich ziemlich dem gregorianischen Choral. Von den Rittern und ritterlichen Sängern ging indes die Kunst bald auf die Bürger und ehrsamen Handwerker über: der ritterliche Minnegesang wurde zum zunftmässigen, kleinbürgerlichen Meistergesange; aus der blühenden Rose entwickelte sich die magere Frucht der Hagebutte.

Der Hauptsitz des Meistergesanges war anfangs Mainz, später Strassburg, Augsburg und Nürnberg, auch[685] Ulm und Regensburg. Die Kunstgesetze waren in der sogenannten Tabulatur verzeichnet, wo auch für jeden genau bezeichneten Fehler eine bestimmte Strafe festgesetzt war. Zu überwachen, dass die Gesetze von den Singenden gehörig beobachtet wurden, war Sache der sogenannten »Merker«. Der Obermeister, Kronenmeister, Merkmeister mit seinen Merkern, der Büchsenmeister und der Schlüsselmeister bildeten zusammen den Zunftvorstand. Jede Zusammenkunft hiess eine Schule und die Mitglieder nannten sich »Liebhaber des deutschen Meistergesanges«. Beim Beginn der Schule nahm das Gemerk die Sitze an der Oberstelle ein. Die Vorträge mussten frei gehalten werden. Die vier Merker teilten sich in ihr Wächteramt; einer achtete auf die Reime, der andere auf das Versmass, der dritte auf die Melodie und der vierte hatte die aufgeschlagene Bibel vor sich, damit kein Verstoss gegen das »Geschrifft« vorkomme.

Die Meistersänger hatten ihren Zunftschatz bestimmter Melodien oder Weisen, denen jeder nach seinem Gutdünken sein Poëm unterschieben konnte, obgleich dem Meister die Erfindung eines neuen Tones keineswegs verwehrt war. Wurde dieser neue Ton von den Merkern genehmigt, so gab man ihm einen »ehrlichen nicht verächtlichen« Namen, welcher insgemein höchst verwunderlich lautete. Da gab es einen blauen Ton, einen roten Ton, eine geschwänzte Affenweis, eine gelbe Veiglinweis, eine »über kurz Abendrotweis«, einen »gläsernen Halbkrügelton« und wie diese vom baroksten Ungeschmack eingegebenen Benennungen sonst lauteten.

Nach dem Beispiele der Meistersänger vereinten sich nun auch die Instrumentalmusiker zu zunftmässig geordneten Genossenschaften und gaben das vagabundierende Leben, welches sie bis dahin als »fahrende Leute« geführt, auf. Namentlich waren es in den Städten die Türmer, um welche sich nach und nach Horn- und Pfeifenbläser ansammelten und sich zu Bruderschaften verbanden.

In Frankreich war es besonders die Confrérie de St Julien des Menestriers, in Deutschland die 1288 gestiftete Nicolai-Bruderschaft. Einen besonderen Gönner fanden die fahrenden Leute an Karl IV., der ihnen einen eigenen König gab, den »Rex omnium histrionum«. Der erste war Johannes, der »Fiedler« genannt. Diesem Beispiele folgend, ernannte Adolf, Kurfürst von Mainz, seinen Hofpfeifer Brachte zum Pfeiferkönig. – Jährlich hatten sowohl die Pfeifer als die Geiger ihren Pfeifer- und Geigertag. An diesem Tag wurde der König neu gewählt und fanden die Gerichtsverhandlungen statt; mit Gottesdienst wurde er eröffnet, mit Spiel und Tanz beendet.

Die erste selbständige Instrumentalform, die zugleich bedeutsam für die Entwicklung der gesamten Kunst wird, ist der Tanz. Derselbe wurde in doppelter Weise ausgeführt, als umgehender oder als springender. Der erste erinnert an unsere Polonaise, der letztere an die Reihen, wie sie heute die Kinder noch ausführen. Zur Bezeichnung des Taktes genügte zunächst die Trommel; bald kam die Pfeife, namentlich die sogenannte Sackpfeife (der Dudelsack) hinzu, und der Stimmung, welche der Tanz in den Tanzenden erzeugte, wurde in mannigfaltigen Tanzliedern Ausdruck verliehen, die sich im Metrum eng an den Tanzschritt anschlossen und deren Inhalt namentlich die Freuden der Liebe ausdrückte. Diese Tanzmelodien erlangten grossen und bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Liedes. Das rhythmische Element wurde dadurch in[686] die Volksmusik eingeführt. Allein nicht nur das; das Volk sang nur, wenn sein Herz voll war, sei es vor Freude oder Leid, vor Hoffen, Sehnen oder Bangen und sang nichts anderes, als was sein Herz bewegte. Dann aber musste es singen und die Melodie wurde der getreue Ausdruck der Empfindungen.

Dem Volke waren zugleich die spekulativen Theorien über die Musik unbekannt. Es vermochte den Ausdruck seiner Gefühle nicht in die 21 Töne der Guidonischen Skala einzuzwingen, sondern benutzte eben Zwischentöne, wie sie ihm gerade passten. Dadurch aber wurde der Sturz der Kirchentonarten mit ihrer strengen Diatonik vorbereitet. Die beliebteste Tonart, in welcher das Volk sang und dichtete, war die mit C beginnende (unser Cdur). Dieselbe wurde mit der Zeit neben der mit A beginnenden (unser Amoll) zur eigentlichen Normaltonleiter, nach der alle andern gebildet wurden. Die meisten Volkslieder wurden von ganzen Gesellschaften verfasst, wenn auch der weitaus grösste Teil derselben dem rein persönlichen Empfinden seine Entstehung verdankt, wie die zahlreichen Liebes-, Reiter-, Jäger-, Studenten-, Wein- und Gesellschaftslieder. Die Limburger Chronik enthält die frühesten Mitteilungen über die Beschaffenheit der Volksgesänge; zahlreiche Beispiele finden sich in einer im 15. Jahrhundert verfassten Handschrift, dem Lochheimer Liederbuch.

5. Die Schule der Niederländer. Der entscheidende Einfluss der Volkslieder auf die Kunstmusik macht sich vorerst in der Kunst des Diskantierens geltend; ja dieselbe fand, besonders in der gesangreichen Provence, eine so eingehende Pflege, dass Papst Johann XII. sich veranlasst sah, eine Bulle gegen den Gebrauch »melodienfremder Intervalle« beim gregorianischen Gesang mit Ausnahme »einiger melodiöser Konsonanzen«, in Oktave, Quinte und Quarte zu erlassen. Allein erst Mitte des 14. Jahrhunderts konnte dem Unfuge des Improvisierens des Diskantes vorläufig Schranken gesetzt werden, dank der Wirksamkeit der für diese Kunst besonders begabten Niederländer in der päpstlichen Kapelle. Schon früher war bei den päpstlichen Sängern eine Form des dreistimmigen Gesanges unter dem Namen Fauxbourdons (falscher Bass) in Aufnahme gekommen. Derselbe ist nichts anderes als eine Reihe von Sextakkorden und wenn auch etwas wohlklingender, so doch nicht weniger mechanisch als das Organum des Hucbald. Über den Namen »falscher Bass« sind die mittelalterlichen Theoretiker selbst nicht ganz einig. Von den einzelnen Stimmen eines solch mehrstimmigen Gesanges hiess diejenige, welche den gregorian. Cantus firmus hielt: Tenor; die Gegenstimme, der Discantus, welche in der Regel ein dem Volksgesang entnommenes Motiv verwendete: Motetus; die eingeschobene Zwischenstimme aber hiess Kontratenor. Wie sehr aber auch die Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes durch alles dies gefördert wurde, so blieb daneben doch der improvisierte Discantus oder Contrapunctus (Gegenbewegung von Note zu Note) im Gebrauch. Der erste bedeutende Kontrapunktist, welcher diesem Contrapunto a mente entgegenzutreten suchte und dessen Arbeiten wirklichen Stil zeigen, ist der Niederländer Wilhelm Dufay aus der belgischen Provinz Hennegau. Namentlich ist es die sogenannte Nachahmungsform, welche er mit bewundernswertem Eifer und ausserordentlichem Erfolge an Stelle des freien Discantus einführte. Diese Nachahmungsform (canon, fuga) entstand derart, dass eine zweite Stimme die Melodie der ersten zu anderer Zeit und oft auch[687] in einer andern Tonhöhe, ja selbst in verändertem Tempus begann, während die erste dieselbe zu Ende führte. Sonderbar sind die Notierungskünste, welche die niederländischen Meister hierbei anwandten. Beim einfachen Kanon lag es nahe genug, sich mit Notierung von nur einer Stimme zu begnügen und den Eintritt der übrigen Stimmen durch ein Zeichen anzudeuten. Komplizierter wurde die Sache allerdings bei zusammengesetzten Musikstücken, wobei dem Scharfsinn der Sänger sehr viel zugemutet wurde, besonders als man an Stelle der Zeichen mysteriöse Sprüche zu setzen begann. Auf die Textworte nahmen die niederländischen Tonsetzer vorderhand keine Rücksicht, ja man liess oft sogar zwei ganz verschiedene Texte durcheinandersingen, besonders als die Musiker an Stelle des gregorianischen Chorals Volksweisen als cantus firmus einführten. Als Vertreter des eigentlichen Kontrapunkts wird Ockenheim bezeichnet, der die Theorie des Kanons bedeutend erweiterte. Die Freude der Vielstimmigkeit erreicht bei ihm bereits eine ins Grenzenlose gehende Form. Als Beweis mag seine 36 stimmige Motette dienen. Noch weiter als Ockenheim brachte es sein Schüler Josquin des Près. Mit den bestehenden Regeln nahm er es allerdings nicht sehr genau, sodass zahlreiche Klagen über die neue Musik laut wurden. Allein die Tonkunst sollte eine neue Basis erhalten; das alte System sollte zerfetzt und ein neues emporgetrieben werden. Namentlich veranlasste die Einführung des Volksliedes in die Kunstmusik, den Bann der alten Kirchentonarten zu sprengen, und wenn auch Josquin noch manches von der Pedanterie der niederländischen Schule anhängt, wie der Gebrauch verschiedenartiger Texte oder ins Weite getriebener Polyphonie, so ist doch das Streben bemerkbar, den Tonsatz der Dichtung anzuschmiegen. Auch ist er der erste, der den ästhetischen Wert der Dissonanz erkannt hat und sie mit Bewusstsein und Absicht zum Ausdruck leidenschaftlicher Empfindungen verwendet.

6. Italienische Schulen. Mit noch grösserem Erfolge als Josquin strebte dessen Landsmann Adrian Willaert, der Begründer der venezianischen Schule, darnach, die Kunst des Tonsatzes dem musikalischen Gedanken dienstbar zu machen, insbesondere die polyphonen Gebilde durch dramatischen Ausdruck zu beleben. Die Anlage der Markuskirche, an welcher Willaert Kapellmeister war, mit ihren zwei Emporen, führte ihn auf den Gedanken, die Chöre örtlich zu trennen und so das verwickelte Gewebe der Polyphonie möglichst zu entwirren.

Damit hatte er die Zweihörigkeit geschaffen, bei welcher die einzelnen Stimmen nicht mehr sich selbständig zu entwickeln strebten, sondern vielmehr sich in Massen zu vereinigen bemüht waren. Das bedingt aber zugleich, dass man von jetzt ab nicht mehr mit dem einzelnen Tone operierte, sondern mit Akkorden und dadurch die Bildung harmonischer statt melodischer Formeln notwendig machte. Durch die Massenwirkung kam zugleich auch das Wort wieder zu grösserer Bedeutung, welches in dem künstlichen Tongeflechte der niederländischen Kontrapunktisten ganz verloren gegangen war.

Dass an der strengen Diatonik der Kirchentonarten bereits vielfach gerüttelt worden war und zahlreiche Zwischen- und Halbtöne eingeführt werden mussten, wurde bereits betont. Den entscheidenden Schritt, die Musik aus den Banden der Diatonik zu befreien, thaten die Schüler Willaert's: Cyprian de Rore und Zarlino. Ersterer dadurch, dass[688] er den freien Gebrauch der Chromatik (wonach die Oktave als eine Aufeinanderfolge von zwölf Halbtonschritten erscheint) in bemerkenswerter Weise steigerte, der andere, indem er die sogenannte temperierte Musik einführte.

Die Höhe des Tones wird durch die Anzahl der Schwingungen, welche der tönende Körper in einer gewissen Zeit macht, bestimmt, sodass z.B. die doppelte Zahl der Schwingungen eines angenommenen Tones in gleicher Zeit die Oktave desselben giebt. Wie aber die Anzahl der Schwingungen eines Körpers durch seine Länge bedingt wird, so auch der Ton. Eine um die Hälfte verkürzte Saite giebt bei gleicher Spannung die Oktave des durch die ganze Saite erzeugten Tones, um 2/3 verkürzt giebt sie die Quinte, um 3/4 die Doppeloktave etc. Untersucht man derart die Schwingungszahlen sämtlicher Töne der diatonischen Skala von c, welche neben derjenigen von a noch fast ausschliesslich im Gebrauche war, so erhält man, wenn C in einer Zeiteinheit eine Schwingung macht, für

Musik

Schwingungen. Das Verhältnis von C : E, also vom Grundton zur Terz ist ein sehr kompliziertes, und da erfahrungsgemäss nur der Zusammenklang jener Töne dem Ohre angenehm ist, welche in einem einfachen Zahlenverhältnis stehen, so musste C–E notwendig als Dissonanz erscheinen. Zarlino versuchte nun, dem abzuhelfen, indem er die Terz um das Intervall 89/81 (das sogenannte syntonische Coma) verkleinerte und auch den diatonischen Halbton ♮ in ein einfacheres Verhältnis zum Grundton brachte. Dadurch erhielt er folgendes sogenannte reine diatonische System

Musik

Nun konnte die Terz ruhig unter die Konsonanzen aufgenommen werden und der Akkord: Grundton, Terz und Quinte, der sogenannte Dreiklang, wurde von nun an die eigentliche Basis aller polyphonen Musik. Damit hatte die venezianische Schule, welche in Joh. Gabrieli ihre höchste Blüte gewonnen hatte, den Grund zur Harmonie gelegt.

Diese aber bildete ein richtiges Gegengewicht gegen die Ausschreitungen und Missbräuche der niederländischen Kontrapunktisten, welche die beim Konzil zu Trient versammelten Väter beinahe bestimmt hätte, die mehrstimmige oder Figuralmusik gänzlich aus der Kirche zu verbannen. Glücklicherweise war inzwischen in Pier Luigi Sante, nach seiner Geburtsstadt Palästrina genannt, der Meister erschienen, welcher Melodie und Harmonie im richtigen Masse zu verbinden wusste. Er geht den umgekehrten Weg wie die Venezianer. Während bei diesen die einzelnen Stimmen sich melodisch zu entfalten und zu Akkorden zu verbinden strebten, lösten jetzt die einzelnen Stimmen die Akkordmassen auf. Früher war das mehr flüchtige, melodische Element vorwiegend, jetzt tritt das macht- und glanzvolle Harmonische in den Vordergrund: die Akkorde sind gewissermassen die Säulen, über die und zwischen denen die Melodie ihre Bogen schlägt.

7. Das geistliche Volkslied und das Kunstlied. Während so jenseits der Alpen die kirchliche Kunstmusik sich entwickelt und eine hohe Stufe der Vollendung erlangt hatte, war es dem Norden beschieden, dem Volksliede seine Pflege zuzuwenden, ohne dass die nordischen Meister versäumt hätten, auch der Entwicklung der kirchlichen Kunstmusik zu folgen, welche in Heinrich Finck, Heinrich Isaak,[689] Stephan Mahu, Ludwig Senfl, namentlich aber in Orlandus Lassus, dem Münchener Kapellmeister, bedeutende Vertreter fand. Von weittragender Bedeutung für die Weiterentwicklung der nordischen Musik war vorab die Erscheinung Luthers und sein Bestreben, statt des rituellen lateinischen Gesanges den deutschen Gemeindegesang beim Gottesdienste einzuführen. Wir haben bereits darauf hingedeutet, wie ausserhalb der Kirche schon ein geistliches Volkslied entstanden war. Das 12. Jahrhundert schon hatte das recht volksthümliche: »Crist ist erstanden«, »In Gottes Namen fahren wir« und eine Anzahl Marienlieder erzeugt; indess war die Teilnahme des Volkes an der Liturgie als singendes Glied doch immer unbedeutend. Luther erst war es vorbehalten, deutsche Sprache und deutschen Gesang in der Kirche zur Herrschaft zu bringen. In richtiger Erkenntnis des Guten wählte er zunächst aus dem altlateinischen Kirchengesang solche Melodien, welche an die Liederform erinnerten, wie das: »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen« oder das Veni redemptor gentium; den gregorianischen Choral aber verwarf er gänzlich. Er meint, dass sei »wüstes Eselsgeschrei« und töne, »wie Gesang der Hunde und Säue«.

Reichere Ausbeute als der Kirchengesang lieferte dem protestantischen Kirchengesang das weltliche Volkslied, jene Tanzmelodien, welche schon die Niederländer als Cantus firmus statt der gregorianischen Weisen in ihren kontrapunktischen Werken benutzt hatten. Es wurden zu diesen gegebenen Melodien neue Texte gedichtet, wie zu dem Lied: Innsbruck, ich muss dich lassen: »O Welt ich muss dich lassen«. Die bedeutendste Verbesserung war jedoch, dass die Melodie in die Oberstimme verlegt wurde, während sie früher in der Mittelstimme, im Tenor lag. Einen treuen Mitarbeiter fand Luther in dem Kapellmeister Friedrichs des Weisen, Johann Walther, welcher die neue kirchliche Weise: den Choral, zunächst noch im Sinne der alten Musikpraxis mit dem Schmucke der Kontrapunktik ausstattete. Ungleich bedeutender wirkten nach dieser Richtung Ludwig Senfl und Georg Rhaw.

In der zweiten Hälfte des 16, Jahrhunderts beginnt sich der Einfluss der venezianischen und römischen Schule geltend zu machen. Man begann, die verflochtenen Stimmen, welche durch Einführung des Kontrapunktes entstanden waren, einheitlich in der Harmonie zusammenzufassen. Mit genialem Verständnis erfasste diese Weise der als Tonsetzer wie als Gelehrter hochberühmte Seth Calvisius, den Höhepunkt aber erreicht sie in Hans Leo Hassler, Prätorius, Eccard und dessen Nachfolger Stobäus.

Neben dem kirchlichen Chorale pflegten diese Meister selbstverständlich auch weltliche Musik: es erstand das sogenannte Kunstlied, das ist die mehrstimmige Bearbeitung von Volksmelodien mit genauer Berücksichtigung des Textes. Die früheren Komponisten hatten nicht an eine im Sinne und Geiste der Melodie erfolgende Ausgestaltung derselben gedacht, dem alten Kontrapunkt waren die Volksweisen nur Tonphrasen. Jetzt werden sie Keim und Wurzel eines sich selbständig aus denselben entwickelnden Kunstgesanges. Zugleich wurde auch versucht, eigene Melodien zu erfinden. In Italien war namentlich das sogenannte Madrigal, ein kurzes, gewöhnlich acht-, höchstens zwölfzeiliges Lied, das von Liebe oder von der Herrlichkeit der Natur handelte, aufgekommen. An diesen Gedichten versuchten sich die Kontrapunktisten[690] zuerst in der freien Erfindung. Die natürliche Folge dieser Musikübung war, dass nun auch der Einzelne versuchte, die Oberstimme oder selbst eine Mittelstimme, die im Grunde nicht weniger Melodie hatte als jene, allein zu singen und die fehlenden Stimmen durch Instrumente zu ersetzen. Um Ausbreitung dieser Gesangsweise erwarb sich namentlich der berühmte Sänger Giulio Caccini Verdienste. In Deutschland wurde sie von Prätorius, Heinrich Schütz und Hermann Schein weitergebildet. Dabei spielte selbstverständlich die Begleitung vorerst eine untergeordnete Rolle. Die künstliche Stimmverflchtung des Kontrapunktes löste sich in einfache Akkorde auf. Man brauchte deshalb neben der Melodie nur den Bass zu verzeichnen und die begleitenden Akkorde durch Zahlen anzudeuten. Diesen numerierten Bass nannte man Generalbass.

8. Die Ausbildung der Instrumentalmusik. Das beliebteste Instrument, mit welchem die Gesänge im 16. Jahrhundert begleitet wurden, war unstreitig einerseits die Laute – sie war zum Hausinstrument geworden – anderseits die Orgel, welche sich in der Kirche eingebürgert hatte. Für beide war denn auch eine eigentümliche Notierungsform entstanden. Für die Orgel genügten noch lange die Guidonischen Buchstaben, denn die Konstruktion derselben war unsäglich plump, und man begnügte sich, auf derselben den cantus firmus einstimmig, höchstens mit dem Organum verbunden, zu begleiten. Dem entsprechend bildete sich in Deutschland die sogenannte Orgeltabulatur aus. Dieselbe bestand vorerst aus den Tönen der diatonischen alten Skala, welche nun folgendermassen bezeichnet wurden:

Musik

Als dann auch die Zwischentöne immer erweiterten Eingang fanden, wurden sie durch ein angehängtes Häkchen oder eine Schleife angezeigt, z.B.: f, oder f ζ = fis. Nachdem die Verbesserung des Instrumentes dann auch die Ausführung der Mensuralmusik möglich machte, musste der Zeitwert der Noten gleichfalls bestimmt angegeben werden. Man fügte deshalb der Buchstabenschrift besondere Zeichen bei: ein Punkt bedeutete z.B. eine Brevis, ein Strich die Semibrevis u.s.w. Im Übrigen wurden die Stimmen so untereinander gesetzt wie in unserer Partitur.

Diese Art der Aufzeichnung war für Orgel, Geige, Laute und die entsprechenden Instrumente im Gebrauch, kam aber auch beim Gesang zur Anwendung. Daneben hatten die Lautenisten noch eine eigene, die Lautentabulatur erfunden, welche ganz speziell der Spielweise und der Technik des Instrumentes angeeignet war. Dabei ging man von der fünfsaitigen Laute aus, deren einzelne Saiten man mit den Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, die einzelnen Griffe aber mit Buchstaben bezeichnete. Die Meister des Lautenspiels gaben dazu noch mancherlei ergänzende Bestimmungen, wie Hans Gerle in Musica Teusch. Eine Zwischenstellung zwischen Orgel und Laute nimmt ein anderes Saiteninstrument ein, das schon früh mit einer Klaviatur versehen worden war. Dasselbe war entstanden aus dem Monochord, einem einsaitigen Instrument, auf welchem durch Verschiebung eines Steges die verschiedenen Töne erzeugt werden konnten. Um sich das Verschieben des Steges zu ersparen, brachte man mit der Zeit eine Anzahl Tasten an, welche beim Niederdrücken die Saite in bestimmte Längen teilte und zugleich erklingen machte. Später nahm man statt der einen Saite mehrere, wodurch das Instrument, das sogenannte Clavichord, bundfrei wurde, da die Tasten von nun an[691] nur mehr die Funktion des Erklingenmachens, nicht mehr aber des Abteilens zu versehen hatten. In dieser Form nannte man das Clavichord auch Clavicymbel, Spinett oder Virginal.

Neben diesen Instrumenten besass das Mittelalter noch eine Grosszahl anderer, namentlich waren die Streich- und Blasinstrumente viel zahlreicher als heutzutage. Äus der keltischen Crota war die Rota oder Fidel, Viola (vergleiche den Artikel Musikinstrumente) entstanden, sowohl die Viola di gamba als die Viola di braccio. Unter den Blasinstrumenten gelangten namentlich die Pommern und Schalmeien zu umfassender Verwendung.

Bisher war die Instrumentalmusik beinahe ausschliesslich mit der Volksmusik verbunden gewesen. Je selbständiger jedoch dieselbe wurde, umsomehr musste sie sich von der Volksmusik lostrennen und einen eigenen Stil ausbilden, den Instrumentalstil, der sich vom Vokalstil der Hauptsache nach durch grössere rhythmische Bestimmtheit – angeregt durch den Tanz, zu dessen Begleitung die Instrumente geeigneter schienen, als die menschliche Stimme, – sowie durch grössere Beweglichkeit, durch Zerlegen des langgehaltenen Gesangtones in kleinere Wertteile auszeichnete. Von grösster Wichtigkeit nicht nur für die Instrumentalmusik, sondern für die gesamte Kunst aber war die durch erstere geforderte Annahme einer bestimmten einheitlichen Tonhöhe und die Einführung der sogenannten gleichschwebenden Temperatur.

Schon Zarlino hatte die Temperatur in die Musik eingeführt und war zu einer Scala gekommen, deren einzelne Töne folgende Schwingungszahlen aufweisen:

Musik

wobei c–d und f–g zu einander im Verhältnis von 8: 9; d–e und a–h aber in dem von 9: 10 stehen. Der Tonschritt c–d und f–g ist also kleiner als derjenige von d–e und a–h. Dies musste aber ausserordentlich störend wirken, als die chromatische Tonleiter und die feststehende Stimmung eingeführt wurde und die verschiedenen Instrumente ineinander musizierten. Da konnte die mathematische Reinheit nicht mehr aufrecht erhalten werden, sondern die Ungleichheiten mussten unter die 12 Halbtonschritte der chromatischen Skala gleichmässig verteilt werden. Dieses nannte man die gleichschwebende Temperatur.

Ein Orchester aus dieser Zeit war noch etwas äusserst bunt Zusammengewürfeltes. Es galt ja vorderhand nur, die Singstimmen zu ersetzen oder zu unterstützen, nicht aber besondere Klangwirkungen zu erzielen. Man stellte die Instrumente deshalb zusammen, wie sie gerade zu haben waren, weshalb die Komponisten auf ihre Tonstücke ziemlich regelmässig die Bemerkung machten: »auff allerley Instrument zu gebrauchen.« Indessen beginnt doch schon in Prätorius das Gefühl nach verschiedenen Klangwirkungen sich zu zeigen, er spricht bereits von verschiedenen Seiten des Stimmwerks. Einen besonderen Reiz sollte die Instrumentation durch das sogenannte Kolorieren und Diminuieren erhalten, das aus dem Stegreif geübt wurde und etwas mit der Kunst des Diskantierens gemein hatte. Namentlich zeigte sich dieser Ornamentalstil in der sogenannten Toccata, wo anstatt der Melodie laufende und gebrochene Figuren eingeführt sind. Ihre künstlerische Gestalt verdankt sie dem venetianer Organisten Claudio Merula, die volle Ausbildung aber wurde ihr durch Frescobaldi zu Teil, dessen Toccaten alle musikalischen Errungenschaften seiner Zeit in sich vereinigen: die Fuge, die freie Imitation, glanzvolles Passagenwerk und mächtig strömende[692] Akkordfolgen. In einer zweiten Kunstform, der sogenannten Kanzone, kam das gesangreiche Spiel mehr zur Anwendung, und in der »Symphonie« und dem »Ritornell« begegnen wir bereits ganz selbständigen Orchestersätzen, welche entweder Vokalsätze einleiten oder Erholungspausen der Sänger ausfüllen.

In Italien war zudem die Sonate eine beliebte Instrumentalform geworden. Ihr Name bedeutet ursprünglich nichts als Instrumentalstück und scheint denselben Zwecken gedient zu haben, wie die Symphonie. Eingehende Pflege fand auch im 17. Jahrhundert die Tanzweise. Schon die Stadtpfeifer hatten die Gewohnheit gehabt, eine Anzahl von Tanzweisen, zu einem Cyklus vereint, ohne den dazu gehörigen Tanz vorzutragen. Diese so aneinandergereihten, im übrigen nur durch Gemeinsamkeit der Tonart zusammengehörigen Tanzstücke, nannte man anfangs Partie (partita). Später wurden sie als Suite eine der beliebtesten Instrumentalformen.

Besonders einflussreich auf die Weiterentwicklung der Instrumentalmusik sollte eine Kunstgattung werden, welche im Lauf der Zeit aus Verbindung von weltlicher und kirchlicher Musik sich gebildet hatte:

9. Die Oper und das Oratorium. Schon im 12. und 13. Jahrhundert hatten die sogenannten geistlichen Schauspiele immer mehr Ausbreitung erlangt. Dieselben bestanden aus Darstellungen biblischer Stoffe in der Kirche und waren vorerst mit der Liturgie aufs engste verbunden. Der Gesang war teils wirklich ritualer Kirchengesang, teils wurden die nach dem Bibelworte zusammengestellten oder auch frei erfundenen Gesänge nach eigenen Melodien vorgetragen. Der freie derbe Humor jener Zeiten verlangte aber zugleich Einmischung komischer Episoden: wie wenn der Salbenkrämer den zum Grabe eilenden Frauen seine Ware unter allerlei Scherzen anbietet.

Damit hatten jedoch die geistlichen Schauspiele ihre höhere Weihe gänzlich verloren und wurden deshalb mit Recht aus der Kirche verbannt. Allein das Volk, das einmal grossen Gefallen an diesen Spielen fand, liess sich dieselben nicht nehmen, sondern führte sie auf freien Plätzen oder im besondern »Spilhus« auf. Vgl. den Art. Drama.

Einen wohlthätigen Einfluss übte auf die Entwicklung des Schauspiels der erwachende Geist der Renaissance aus. Man versuchte es, die altgriechischen Komödien nachzubilden und brachte dadurch wieder mehr Ernst in die Sache. Auch dazu ging der Anstoss von Italien aus. Das dramma in musica oder die Tragedia per musica fand dort namentlich in Peri einen eifrigen Vertreter und Beförderer. Wir haben schon gesehen, wie der Sänger Caccini den Einzelgesang oder die Monodie wieder einzuführen bestrebt war. Den weiteren entscheidenderen Schritt that nun Peri in seiner ersten Oper: »Dafne«, indem er einen völlig neuen Musikstil einführte, welcher die Mitte hielt zwischen Gesang und ausdrucksvoller Rede, den sogenannten Stile recitativo, der noch heute in unsern Opern gebraucht wird. Peri gewann sich dadurch die ungeteilte Zustimmung der Hörer. Man glaubte, die dramatische Musik der alten Griechen wieder aufgefunden zu haben. Allerdings war jetzt das Material zur Rekonstruierung des antiken Musikdramas wieder beieinander: der Chor zum Ausdruck der Stimmung der Gesamtheit, der melodische Gesang (die Arie) zur Schilderung der Gefühle des Darstellers und das Recitativ für den Dialog und diejenigen Empfindungen, welche nur vorübergehend anzudeuten waren. Durch seinen Erfolg ermutigt, schuf Petri[693] bald darauf das Musikdrama »Euridice«, ein Werk, welches berufen war, einen Markstein in der Geschichte der Musik zu bilden; denn mit demselben tritt diejenige Kunstgattung ins Leben, die von nun an ununterbrochen die musikalische Welt beschäftigen sollte: die moderne Oper.

Die Instrumentalbegleitung war hierbei noch äusserst dürftig und beschränkte sich auf einfache Begleitung des Gesanges. Den ersten Schritt, auch die Instrumentalmusik in der Oper zur Charakteristik der verschiedenen Stimmungen verwandt zu haben, that Monteverde, der die Individualität der einzelnen Instrumente und ihre verschiedenen Klangfarben erkannt hatte.

Bedeutenden Einfluss auf die Weiterentwicklung der dramatischen Musik übte Giacomo Carissimi aus, der zwar keine Opern schrieb, aber den wichtigsten Anteil an der Ausbildung einer der Oper ähnlichen Kunstgattung, dem Oratorium hat. Als Begründer desselben erscheint der römische Priester Filippo Neri, der auf den Gedanken kam, seine Erklärungen der heiligen Schrift mit geistlichen Chorgesängen zu verbinden, welche dieselben gleichsam illustrierten. Zu wirklich selbständiger Bedeutung aber gelangte das Oratorium erst durch Ludovico Viadana, der mit seinen Concerti da chiesa die von Caccini neuerfundene Monodie zuerst wieder in der Kirchenmusik heimisch machte und durch Einführung eines selbständigen obligaten Instrumentalbasses, des Basso continuo, eine durch das ganze Stück ohne Pause sich hindurchziehende Grundstimme schuf. Das wirklich dramatische Element, die Umgestaltung der einfach liedartigen Kantate zu einer Art dramatischen Scene mit Recitativ, Ariosen und Ensembleeinsätzen (freilich ohne sichtbar dargestellte Handlung) führte erst Carissimi in das Oratorium ein und schuf dadurch die sogenannte Kammerkantate, bei welcher die Aufmerksamkeit des Zuhörers weder durch äussere Darstellung, wie in der Oper, noch durch religiöse Ceremonien, wie in der Kirchenmusik mit in Anspruch genommen wird und sich also durchaus auf das Tonwerk konzentriert. In dieser strengen Schule bildete sich Skarlatti, der dadurch die Fähigkeit erlangte, auf jedem Spezialgebiet mit Erfolg zu wirken. Seine Fruchtbarkeit war eine unglaubliche. Er dichtete 114 Opern und 200 Messen, daneben eine Menge Kantaten. Skarlatti führte die italienische Oper zu ihrem Glanzpunkte, wenn er auch dem sich steigernden Bedürfnis nach sinnlichem Reize die antike Einfachheit derselben opfert.

Mit grossem Eifer wandten sich der dramatischen Form nun auch die deutschen Meister zu. Schon längst hatte in Deutschland wie in Italien das geistliche Schauspiel bestanden, aus dem sich mit der Zeit das weltliche Spiel entwickelt hatte. Die Thätigkeit der schlesischen Dichterschule gab der ganzen Sache einen anderen Verlauf, indem jetzt ebenfalls versucht wurde, nach klassischen Mustern der ganzen Richtung einen bestimmten Weg vorzuzeichnen. Der alte deutsche Schwank wurde zum Singspiele, in welchem das deutsche Lied eine nicht unwichtige Rolle spielte. Die Einführung der eigentlichen Oper aber veranlasste Peri's Daphne, welche Martin Opitz, der Begründer der schlesischen Dichterschule, im Auftrag des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen in's Deutsche übersetzte und wozu der Dresdener Hofkapellmeister Heinrich Schütz die Musik dichtete, die sich dem italienischen Stile auf das Engste anschloss. Indessen vermochte die Oper in Deutschland vorderhand doch nicht recht aufzukommen, der 30jährige Krieg[694] lähmte alle Kunst in ihrem Fortschreiten. Einzig in Hamburg kam sie zu einer gewissen Blüte, in dem ihr besonders zwei Doktoren der Medizin: Francke und Frötsch ihr musikalisches Talent widmeten. Zu grösserer Bedeutung, gelangten diese Versuche erst mit Sigismund Kusser, der nicht nur ein gründlicher Kenner italienischer, sondern auch französischer Musik war. Namentlich hatte Lully, der Begründer der französischen Oper, auf ihn eingewirkt. In Frankreich hatte die Oper ganz denselben Weg genommen, wie in Italien und Deutschland. Von dem schon genannten Adam de la Hale kennt man die ältesten Liederspiele, kleine artige Liederstücke. Entschiedenen Einfluss hatte aber auch in Frankreich die italienische Oper, welche durch italienische Sänger nach Paris gebracht und dort mit grossem Beifall aufgenommen ward. Das regte die inländischen Poeten und Tonsetzer zu eigener Thätigkeit an; namentlich waren es Perrin und Cambert, welche mit ihrer Oper Pomone allgemeinen Beifall ernteten. Allein eine wirkliche nationale Gestalt erhielt die französische Oper erst durch Lully, dessen Oper zwar als musikalisches Kunstwerk hinter denen der Italiener zurücksteht (bei ihm liegt der Schwerpunkt in der musikalischen Deklamation und Rhetorik), aber in der geschickten Anwendung der äusseren theatralischen Mittel eine genaue Kenntnis der Bühne verrät. Durch Lully fand auch die Instrumentalmusik selbständige Verwendung, indem er die Ouverture, die Vor- und Nachspiele einführte. Nur Ein Komponist vermochte es, sich neben Lully Geltung zu verschaffen, Jean Philipp Rameau, der theoretische Begründer unseres modernen Musiksystems. Schon Jahrhunderte früher waren die sogenannte ionische und aeolische (die mit c und a beginnende) Kirchentonart im Volksgesange fast ausschliesslich zur Anwendung gekommen. Sie gelangten zur Universalherrschaft, als man anfing, nach Einführung der gleichschwebenden Temperatur, alle 12 Halbtöne der Oktave als Grundtöne ebensovieler Transpositionen der Dur (ionischen) und der Moll (äolischen) Skala zu gebrauchen und damit die der modernen Komposition hinderlichen Schranken der alten Tonarten durchbrach.

Mit grosser Sorgfalt und eingehendem Fleisse war namentlich in Deutschland die kirchliche Form des Oratoriums gepflegt worden. Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts scheint es Ehrensache für jeden Kontrapunktisten gewesen zu sein, die Passion in Musik zu setzen. Schon Orlandus Lassus hatte in seinen Busspsalmen den ersten Anstoss zur Pflege dieser Kunstgattung gegeben. Namentlich aber ist es Heinrich Schütz, der als Schüler Gabrielis die in Italien empfangene Anregung benützte, um seine deutsche Tiefe uud Kernhaftigkeit in vollem Umfange zur Geltung zu bringen. Zugleich aber schuf er eine neue Form des Oratoriums. Bisher hatte sich darin alles nur chorweise bewegt, jetzt versuchte er es, die handelnden Personen selbständig aus dem Chor als Solopartien hervortreten zu lassen und komponierte ein, zwei- und mehrstimmige Sätze, je nach Anzahl der sprechenden Personen. An der Erweiterung des Oratoriums wirkten neben Schütz: H. Schein, Rosenmüller u.a.m.

So waren mit der Neige des 17. Jahrhunderts die letzten Vorbedingungen erfüllt, um alle Musikformen in höchster Vollendung erstehen zu sehen. Namentlich deutsche Meister sind es, welche die Aufgabe des 18. Jahrhunderts zu lösen begannen: die Kunst über die nationalen Bedürfnisse emporzuheben und Kunstwerke im höchsten Sinne des Wortes zu schaffen.[695]

10. Das 18. Jahrhundert. Hamburg wurde bereits als der Ort genannt, wo die bedeutendern Opern des In- und Auslandes zur Aufführung gelangten, und zwar war es dort neben Kusser namentlich Reinhard Keiser, welcher auf Entwicklung der deutschen Oper wesentlichen Einfluss ausübte. Indessen hinderte der szenische Pomp, mit welchem man die Gesangsdramen auszustatten suchte, die reichere musikalische Ausbildung. Ging man auch in Hamburg nicht so weit, wie an einzelnen Höfen Deutschlands und Italiens oder in Paris, so liess man es doch in musikalischer Hinsicht an der notwendigen Sorgfalt fehlen und weder Matheson noch Telemann, die Nachfolger Keisers, vermochten diesem Fehler gründlich abzuhelfen. Die deutsche Oper musste neuerdings der italienischen weichen, welche im übrigen Deutschland viel eifriger gepflegt wurde, namentlich in der veredelten Form, die ihr Agostino Steffani, der Vorgänger Händels an der Oper zu Hannover, dadurch gegeben, dass er mit ihr den etwas verfeinert deklamierenden Stil der französischen Oper zu verschmelzen suchte. Grossen Erfolg errang auch in Deutschland die nur auf virtuose Gesangskunst basierte Oper der Neapolitanischen Schule, die durch Allessandro Scarlatti begründet und dann durch Leonardo Leo, Leonardo Vinci, Cimarosa, Jomelli etc. weitergebildet worden war. Besonders durch die letzterwähnten fand sie auch in Deutschland Verbreitung. Unter den deutschen Opern-Komponisten aber, die sich der Pflege derselben widmeten, sind besonders Hasse, Graun und Naumann zu nennen. So war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die italienische Oper die völlig herrschende in Deutschland. Auch in Frankreich erstand der durch Lully gegründeten grossen Oper 1752 durch die Ankunft einer italienischen Operntruppe eine bedeutende Konkurrenz.

Das musikalische Paris teilte sich alsbald in zwei Parteien, die unter dem Namen Buffonisten oder Antibuffonisten entweder auf Seiten der italienischen oder der nationalen Oper standen. In dem hartnäckigen Kampfe zogen schliesslich die Italiener den kürzeren, wenn auch, angeregt durch die opera buffa, die opera comique, welche namentlich in Grétry einen praktischen, in Rousseau einen theoretischen Vertreter fand, enstanden war. Zum Abschluss gelangen sollte der Kampf erst durch das Erscheinen eines der grössten Männer der Musikgeschichte, eines Deutschen, durch: Christof Willibald von Gluck, der nicht nur Frankreich, sondern auch Deutschland zu einem mustergültigen Opernstil verhalf. Dieser war nur dadurch zu finden, dass der weitschweifige Mechanismus der durch Scarlatti gegründeten italienischen Oper zusammengerückt, zu einem lebendigen Organismus beseelt und zugleich mit der grössern Schlagfertigkeit der Darstellungsmittel der französischen Oper ausgestattet wurde. Durch jahrelange unausgesetzte Thätigkeit hatte sich Gluck den italienischen Stil zu höchster Kunstfertigkeit angeeignet und sich mit demjenigen der französischen Oper in gleicher Weise vertraut gemacht. Durchschlagenden Erfolg sollte Gluck mit seiner Oper: Alceste erringen, allein erst mit seiner Iphigenie gewann er den neuen Standpunkt vollständig. Hier hat er den ganzen Apparat der italienischen und französischen Oper von allem Unwesentlichen entkleidet und beide damit zu lebendigem Organismus erhoben. Die charakteristischen Intervallenschritte, welche die Recitation der französischen Oper seit Lully auszeichnen, erhob[696] er zu bedeutsamen Wort- und Gefühlsaccenten, und indem er dieselben zugleich auch der melodienreichen italienischen Arie einverleibte, gelangte diese zu einer Innigkeit der Empfindung, die ausschliesslich das Interesse dem dramatischen Verlauf zuwendet. Dadurch wurde die treffendste Charakteristik der handelnden Personen ermöglicht und die Handlung entwickelte sich dramatisch belebter und wahrer. Zugleich eignet der Meister auch dem Chor, der durch die Italiener vernachlässigt worden war, diese neuen Mittel an, wodurch auch dieser dramatisch bedeutsam wird.

Während so Gluck den ganzen Apparat der Oper jener Zeit verengte, um ihn recht dramatisch zu gestalten, erweitert ihn jener andere Meister – Händel – der gleichfalls die eine Hälfte seines Leben der italienischen Oper gewidmet hatte, ins Gewaltige und Grossartige, um den Ausbau der Form des Oratoriums auszuführen. Händel giebt keins der Mittel der italienischen Oper auf. Die breiten Formen derselben erweitert er noch und trägt sie namentlich auch auf den Chor über; und indem er sie dann mit seinem gewaltigen, mit den Wunderthaten der heiligen Schrift erfüllten Geiste belebt und durch die Meisterschaft seines Kontrapunktes neu gestaltet, gewinnt er die rechte Gestalt für oratorische Darstellungsweise, die ohne äusseren Theaterapparat die ganze heilige Geschichte vor Augen zu führen bestimmt ist.

Während Händel und Gluck den Gestaltungsprozess der neuen Musikpraxis des 18. Jahrhunderts jeder nach besonderer Richtung zu Ende führten, erfasste ihn ein dritter grosser Meister dieser Zeit, Sebastian Bach, in seiner Gesamtheit, um ihn zum Abschluss zu bringen und zugleich die Keime zu neuer grossartiger Entwickelung zu legen. Bach machte den geistlichen Volksgesang, den Choral, zum Mittelpunkt seiner künstlerischen Wirksamkeit, und indem er denselben in den kunstvollen Formen des doppelten und mehrfachen Kontrapunktes verwendet, führt er den Gestaltungsprozess, der durch die Niederländer angeregt worden war, zu Ende.

Um sein ganzes reich erfülltes Innere aber austönen zu lassen, bedurfte Bach auch der Instrumentalstimmen, welche nunmehr allmählich ebenso wie die Singstimme zu ausdrucksvollen Trägern seiner Ideen wurden. Dadurch gelangte er zu jenem Kantatenstil, bei welchem Vokal- und Orchesterstimmen sich gegenseitig ablösen und sich in einem künstlich ineinander geflochtenen Gewebe ergänzen. Zu wahrhaft dramatischer Form gestalteten sich namentlich seine Passionen, in denen sich, besonders in der Matthäus-Passion, sein ganzes künstlerisches Vermögen zeigt: kunstgemässe Behandlung des protestantischen Chorals, unumschränkte Herrschaft über den fugierten Stil und endlich vollständige Kenntnis der Orchesterinstrumente. – In Bach vollendet sich die Kunst als christliche und tritt zugleich als weltliche, als selbständige Instrumentalmusik, in bisher nicht gekannter Bedeutung hervor. Namentlich gründete Bach den sogenannten Klavierstiel aus, insbesondere durch sein epochemachendes Werk: Das wohltemperierte Klavier, eine grosse Fugensammlung. Noch wunderbarer erweist sich Bach's geniale Kraft in den Orgelstücken. Wie in den Klavierstücken das weltliche Volkslied, so bildet in manchen Werken für die Orgel das geistliche meist die Grundlage. Mit Sebastian Bach war jene Bewegung, welche seit der Reformation die Entwickelung der Tonkunst bestimmt hatte, die Einführung des Volksliedes in die Kunstmusik, bis in ihre äussersten Konsequenzen erschöpft. Zugleich[697] hatte er den Keim zu neuer herrlicher Entfaltung gelegt, indem er die Tonkunst in engere Beziehung zum Individuum und zum Leben überhaupt gesetzt hatte. Wie die folgenden Meister diese Aufgabe gelöst, fällt ausser den Rahmen dieses Artikels. (Nach Reissmann, Gesch. der Musik. Ambros, Gesch. der Musik.)

A. H.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 674-698.
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