Heliand

[399] Heliand (altsächsische Form von Heiland) wird nach J.A. Schmeller eine altsächsische Evangelienharmonie aus den Jahren 825–835 genannt. Als Evangelienharmonie hat das Werk den Zweck die Berichte der vier Evangelien in ein zusammenhängendes Ganze zu bringen. Der Verfasser des vorliegenden Werkes ist unbekannt. Notizen über ihn finden sich in einer »Prafatio in liberum antiquum lingua saxonica conscriptum«, welche allerdings nicht dem altsächsischen Gedichte voransteht, sondern in dem Werke des Flacius Illyricus. »Catalogus testium veritatis«, das 1562 erschien, enthalten ist, aber doch sicher zum Heliand in Beziehung gesetzt werden muss. Diese Präfatio zerfällt in zwei Teile: einen prosaischen und einen poetischen. Im prosaischen Teile wird gesagt, wie Ludwig der Fromme einen berühmten Dichter aufgefordert habe, den Inhalt des alten und neuen Testaments in deutscher Sprache zusammenzufassen. Der Dichter, welcher dem Volke der Sachsen entstammte, kam dem Auftrage seines Herren nach und kleidete die ganze biblische Geschichte von dem Anfang der Welt an bis Christi Tod in ein poetisches Gewand. In den der Prosavorrede folgenden Hexametern wird als Dichter ein Bauer bezeichnet, den eine himmlische Stimme im Traume zum Dichter geistlicher Gesänge entflammt habe. Diese Anekdote ist offenbar im Anschluss an die Erzählung von Kädmon [399] (Beda, Historia Ecclesiastica Lib. IV Cap. XXIV) entstanden, der auch über Nacht ein gottbegnadigter Dichter wurde. Dass der Heliand auf Veranlassung des kirchlich gesinnten Ludwig des Frommen entstanden ist, erregt keinerlei Bedenken, dass hingegen der Dichter ein schlichter Bauer gewesen, ist nicht wahrscheinlich, da das Gedicht für die Leier eines ungebildeten Volkssängers doch zu gelehrt ist. Die Bildung des Verfassers muss nicht unbedeutend gewesen sein, da, wie Windisch in seiner Schrift: »Der Heliand und seine Quellen« Leipzig 1868, nachweist, ihm neben der Bibel und der Evangelienharmonie des Tatian noch Kommentare zu den vier Evangelien vorgelegen haben und zwar zum Matthäus der Kommentar des Rhabanus Maurus, zu Markus und Lukas Kommentare des berühmten englischen Kirchenhistorikers Beda und zum Johannes ein Kommentar des Alkuin. Da der Kommentar des Rhabanus 822 geschrieben wurde, so kann diese Jahreszahl als terminus a quo unseres Werkes genommen werden.

Wenn die Aussage der Vorrede, dass der Dichter sein Werk vom Anfang der Welt bis zum Tode Christi geführt habe, wahr ist, so hätten wir allerdings nur einen Teil der ganzen Dichtung vor uns, da uns nur die Bearbeitung des neuen Testamentes erhalten ist. Es sind nun verschiedene Untersuchungen angestellt worden, um den Anfang des Werkes aufzufinden. Wackernagel sah in dem Wessobrunner Gebet den Eingang des ersten Teiles. Bekannter ist die Ansicht von Sievers geworden, welche auch manches für sich hat, und die er in seiner Abhandlung: »Der Heliand und die angelsächsische Genesis, Halle 1875«, niederlegt. Er glaubt nämlich in der angelsächsischen Genesis Vers 235–851 ein Bruchstück des gesuchten alten Testamentes gefunden zu haben. Unterstützt wird diese Ansicht dadurch, dass genannte Verse im englischen Werke ohne Zweifel Interpolationen sind, und dass sie eine grosse Ähnlichkeit im Wortvorrat und der Ausdrucksweise mit dem Heliand zeigen. Sicher bewiesen ist die Meinung Sievers noch nicht und man nimmt daher am besten an, dass die Mitteilung in der Präfatio auf einem Missverständnis beruhe.

Der Heliand ist in altsächsischer Sprache geschrieben und wird wahrscheinlich in Westfalen entstanden sein. Das Versmass ist die alliterierende Langzeile, welche allerdings zum christlichen Inhalt nicht gerade passt, so wenig als der heidnische Charakter des Walthariliedes zu den lateinischen Hexametern, in welchen das genannte Epos geschrieben ist. Unser Gedicht zeigt die Alliteration schon in ihrem Verfall; doch ist der Verfasser augenscheinlich bemüht, den Inhalt in Einklang zu bringen mit dem Metrum, und zwar dadurch, dass er die Darstellung derjenigen der alten Heldengedichte nähert. So wird das Verhältnis des Heliands zu seinen Jüngern wie das des Fürsten zu seinen Gefolgsleuten geschildert, die Jünger sind des Heilands »snelle degene«. Auch sonst macht sich der Dichter keine Skrupel daraus, einzelne Motive und Gegenstände, welche den Sachsen im biblischen Ausdruck unverständlich gewesen wären, in das Licht der gegenwärtigen Zustände und Verhältnisse zu versetzen. Anderseits vermeidet er auch wieder, was seine Sachsen unangenehm berühren oder ihnen lächerlich erscheinen musste. So schweigt er von der Beschneidung Christi und übergeht, dass Christus auf einem Esel in Jerusalem eingeritten sei. Vermöge des volkstümlichen frischen Zuges, der den Heliand durchweht, und der poetischen und echt epischen[400] Sprache ist das vorliegende Werk ein schönes Denkmal unserer ältesten Dichtkunst und hebt sich vorteilhaft ab von der trockenen, mönchischpedantischen Ausdrucksweise der Evangelienharmonie des Weissenburger Mönches Otfried.

Der Heliand ist uns in drei Handschriften erhalten: 1. Eine Münchner Handschrift. 2. Eine Cotton-Handschrift auf dem britischen Museum zu London, und 3. Eine Prager Handschrift, welche aber nur wenige Verse enthält und welche der Cottonhandschrift sehr nahe steht. Mit einer Herausgabe des Heliand beschäftigte sich schon Klopstock, da es diesem sehr interessant sein musste, einen so alten Messiasdichter kennen zu lernen. Zu einer Ausführung des Planes kam es jedoch nicht. Die beiden bekanntesten Ausgaben sind:

J.A. Schmeller: Hêliand, poema Saxonicum seculi noni. München 1830. 2. Band Glossarium 1840. Moritz Heyne, Paderborn 1866, neueste Ausgabe 1883.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 399-401.
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