Reim

[826] Reim. Derselbe ist im 9. Jahrhundert aus der lateinischen Reimpoesie der Kirche, wo er seit dem 3. Jahrhundert gefunden wird, in die deutsche Dichtung gedrungen, aus der er schnell die ältere Allitteration verdrängte; namentlich war es Otfrieds Einfluss, der hier wirksam war. Mit der Aufnahme des Reims in engster Beziehung steht ebenfalls aus der christlich-lateinischen Dichtung her die Aufnahme der Strophe, die ihrerseits wieder mit der Entwicklung des Gesänge in dieser Periode zusammenhängt.

Das Wort Reim, mhd. rîm, hat ahd. als rîm und hrîm die Bedeutung von Zahl, Vielheit, eine Bedeutung, welche erst im Mittelhochdeutschen in die des durch Gleichlaut mit einem andern gebundenen Versgliedes übergegangen ist. Alle althochdeutschen Gedichte mit Endreimen, die vor dem 11. Jahrhundert entstanden sind, bestehen aus Strophen, die älteren derselben, in denen auch Otfried seine Lieder schrieb, aus vier Zeilen; daneben finden sich in den ältesten Reimgedichten dreizeilige Strophen; Strophen von mehr als vier Versen finden sich[826] vorläufig bloss in Gedichten gemischter Strophenarten, den sog. Leichen. Im 11. Jahrhundert tritt eine allseitige Verwilderung der Reim- und Verskunst ein, teils infolge der in dieser Zeit eintretenden Verdünnung und Abschleifung der Endsilben, teils infolge davon, dass jetzt Gedichte auf kommen, die bloss zum Lesen bestimmt waren, denen daher das strengere musikalische Band abging. Die zum Lesen bestimmten Gedichte bedienten sich des aus dem allitterierenden Langverse hervorgegangenen Reimpaares, das anfangs, zum Teil auch in Anlehnung an lateinische Vorbilder, sehr ungeregelt war und daher den Namen Reimprosa erhalten hat. Künstlich verschlungene Reimgebäude sind zuerst in der Lyrik aufgekommen; anfangs bestanden diese Strophen bloss aus zwei, drei oder mehr mit einander verbundenen Reimpaaren, aus den gewöhnlichen kurzen Versen der erzählenden Gattung; später verband man Langverse ebenfalls paarweis, und zwar wenigstens ihrer vier, zu einem strophischen Reimgebäude, deren merkwürdigstes die Strophe Kürenbergers oder die Nibelungenstrophe ist. Alt ist auch die Erweiterung der aus zwei kurzen Reimpaaren bestehenden Strophe durch Einschiebung einer reimlosen Zeile zwischen das zweite Paar, nach dem Schema a a b x b. Mit dem Fortschritte der lyrischen Kunst wächst dann schnell die Kunst, Strophen zu bauen. Im ganzen waltet bei den mittelhochdeutschen Strophen das Gesetz der Dreiteiligkeit, siehe den Art. Lied; alles dies bedingt durch den Charakter der Musik dieses Zeitalters. In bezug auf die Reinheit der Reime gelingt es anfangs bloss, den Reimklang annähernd zu treffen, so dass dieser oft mehr einer Assonanz als einem wirklichen Reime gleicht, in welchem Vokal und Schlusskonsonanz sich zu decken bestimmt sind; erst die Blütezeit der höfischen Kunst hat die Reinheit des Reimes zu einer fast fehlerlosen, bis heute nie mehr erreichten Vollendung gebracht; namentlich zeichnet sich Hartmann von Aue in dieser Beziehung aus.

Der Zerfall der höfischen Kunst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts galt auch der Kunst des Reimes; derselbe wurde wieder unrein, sowohl infolge mangelnder Kunstbildung, als des Eindringens landschaftlicher Formen in die Schriftsprache; er wurde aber auch gekünstelt und unnatürlich, und namentlich kamen jetzt Strophenungetüme auf, welche das Mass des Schönen weit überschritten. Das alte Reimpaar, jetzt seiner zerknitterten Verse wegen Knittelvers genannt, blieb nicht bloss für die erzählende und die Spruchpoesie der typische Vers, es wurde auch für die neu aufkommende dramatische Dichtung die übliche poetische Form. Was strophische Dichtung betrifft, so erhielten sich in den Singschulen der Meistersänger wohl einige alte von den Meistersängern überkommene Töne; dazu aber wurden stets neue, meist recht abenteuerliche Töne erfunden, oft höchst verwickelt und geschmacklos, manchmal über 100 Verse lang, denen auch das beibehaltene Gesetz der Dreiteiligkeit nicht mehr zur anschaulichen Gliederung zu verhelfen vermochte. Daneben herrschen im Volksliede ältere und einfachere Strophenformen, von vier, fünf oder sechs Verszeilen, welche von der einfachen Volksweise getragen sind. Der seit Jahrhunderten dauernden Reimverwilderung macht endlich Opitz ein Ende; doch ist es weniger der Reim, als vielmehr die Versmessung, welche die Grundlage von Opitzens Reform ist und welche dann auch den Reim zwingt, sich in rhythmischer Beziehung strengeren Gesetzen zu unterwerfen. Die auf dem Ton der Vokale und Konsonanten beruhende Vollkommenheit[827] des Reimes war innerhalb der hochdeutschen Sprache kaum mehr herzustellen, da die Aussprache der einzelnen Laute jetzt ungleich mehr landschaftlichen Nüanzierungen unterlag als dies in der Sprache der höfischen Dichter der Fall gewesen war; daher pflegte die deutsche Poetik bis Schiller der lautlichen Reinheit des Reimes nur ein mässiges Interesse zuzuwenden. Die Aufnahme romanischer Vers- und Strophengattungen durch Opitz und seine Nachfolger konnte, was den Reim betrifft, keinerlei Schwierigkeiten begegnen; die höfische Kunst hatte längst viel grössere überwunden.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 826-828.
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