Aufklärung

[326] Aufklärung erstrebt und gewinnt der Mensch, indem er durch eigenes Nachdenken oder durch Belehrung sich eine richtige Einsicht in Verhältnisse erwirbt, die ihm früher dunkel waren, oder sich Kenntnisse verschafft, die ihm früher fehlten. Die A. bezieht sich also auf den ganzen Lebenskreis, in welchem sich ein Mensch bewegt, und sie ist eine Pflicht für ihn, insofern jeder an seiner Vervollkommnung thätig sein soll. Deßwegen gibt die Kirche den Unterricht im Glauben und arbeitet gegen den Aberglauben, die Schule theilt die Kenntnisse mit, welche das Berufsleben fordert und soll an Denken, Lernen und denkendes Arbeiten gewöhnen und dadurch die geistige Kraft üben, während Gemeinde und Staat in ihren Gesetzen und Verordnungen dem Gereiften von seinen Rechten und Pflichten Kenntniß geben und von den Mitteln, durch welche die Gesammtheit wie die einzelne Person in ihrem geistigen und physischen Zustande gefördert werden soll. Die A. hat also zu Faktoren die Kirche, die Schule, den Staat und die freie Thätigkeit des Einzelnen. – Die falsche A., die von jeher ihre Lehrer und Jünger hatte, wurzelt in der Sucht zu widersprechen, also in dem Egoismus des Stolzes; sodann in der Beschränktheit, die nicht fassen kann, [326] oder der Trägheit des Zweifels, der zu denken aufhört, wo er recht anfangen sollte, oder endlich in dem Köhlerglauben an gewisse Persönlichkeiten, denen man glaubt, obwohl sie wenig oder nichts haben, das sie zur Glaubwürdigkeit berechtigt. Die falsche A. gibt statt der Kenntnisse verworrene Vorstellungen, für Ueberzeugung Zweifel, für den Glauben Widerspruch oder Läugnen, auf der höchsten Stufe statt der Wahrheit die Lüge. Während jeder berufstüchtige pflichttreue Mann am Werke der wahren Aufklärung in seinem weitern oder engern Kreise arbeitet, sind die Aufklärer von Profession in der Regel Leute, die ihr Scherflein Wissen für einen Schatz halten, meistens ohne tiefere wissenschaftliche Bildung, ihre eigenen hochmüthigen Lehrmeister, oder es treibt sie die innere Unruhe, die Qual der Unbefriedigten, die es nicht mit ansehen können, daß Andere neben ihnen zufrieden sind.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 1, S. 326-327.
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