Geist

[222] Geist (pneuma lat. Spiritus, hebr. [...] Hauch) heißt anthropologisch dasselbe wie Seele (s. d.), nur daß diese auch den Inbegriff der inneren oder auch der niederen Lebenszustände, nicht nur den Träger des Denkens und die Persönlichkeit bezeichnet. Die Unterscheidung von Geist und Seele beruht historisch auf dem alten spiritualistischen Dualismus (s. d.), welcher dem Leibe als toter Materie (vgl. Cartesios, Spinoza, Leibniz, Fichte) die immaterielle Seele gegenüberstellte und letztere wieder in eine vegetative, empfindende niedere Seele und eine denkende höhere Seele (Geist) zerlegte. – So hat namentlich Aristoteles (384 bis 322) dem threptikon (der Ernährungskraft), dem aisthêtikon (der Empfindungskraft), dem orektikon (der Begehrungskraft) und kinêtikon kata topon (der Bewegungskraft), die der Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat, den nous (Geist) als höheres menschliches Vermögen entgegengestellt. Ob man sich den Geist als [222] Substanz oder als Energie denken will, hängt wesentlich von dem Erkenntniswerte ab, den man diesen Kategorien beilegt; auch den göttlichen Geist denken wir uns gegenwärtig nicht mehr nur mit dem altchristlichen Begriff als unendliche Substanz, sondern vielmehr als höchste Energie und zwecksetzenden Willen. Doch ist der Substanzbegriff metaphysisch nur schwer zu entbehren und für den Begriff von Geist und Gott vielfach festgehalten. In jedem Falle zwingt uns die Summe unseres Bewußtseinslebens dazu, den Begriff der materiellen Außenwelt durch den der geistigen zu ergänzen und in ihr den tieferen Kern des Daseins zu suchen. (Siehe Idealismus.) Der philosophische Materialismus übersieht einfach die Hälfte der gegebenen Tatsachen. – Da der Geist auch als Lebensprinzip angesehen werden kann, so legt man nicht bloß dem einzelnen Menschen, sondern auch Gemeinschaften einen Geist bei; man spricht vom Geist einer Schule, Kirche, vom Geist eines Zeitalters, d.h. von seiner Denkweise. Ferner stellt man den Geist, d.h. Inhalt, dem Buchstaben, der äußeren Form entgegen. Je nachdem ein Mensch viel oder wenig Geist zeigt, heißt er geistig, geistvoll resp. geistesarm, geistlos. Geistreich ist s. a. witzig; geistlich bedeutet soviel als kirchlich. Ein schöner Geist (bel-esprit) heißt ein Freund der Literatur und Kunst; ein starker Geist ist ein Freidenker.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 222-223.
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