Pathos

[422] Pathos (gr. pathos = Leiden) heißt zunächst allgemein jedes äußere oder innere Leiden des Körpers oder der Seele. So nennt man Szenen in der griechischen Tragödie, in denen sich ein solches Leid offenbart und beklagt wird, Pathosszenen. – In engerer psychischer Bedeutung nur auf die Seele bezogen, heißt Pathos Gemütserregung, Affekt, Leidenschaft. Das Pathos in diesem engeren Sinne stellt, da jede Gemütserregung und jede Leidenschaft eine Macht ist, die den Menschen beherrscht, im Gegensatz zur freien aktiven praktischen Vernunft ; das Pathos kann zur Unvernunft und, insofern sich Vernunft und Natur decken, sogar zur Unnatur werden. Aristoteles (384-322) schied die Seelenvorgänge in Leidenschaften, Kräfte und Fertigkeiten (ta en tê psychê ginomena tria eoti, pathê, dynameis, hexeis). Zu den ersten, die er geradezu den Begierden (epithymiai) gleichsetzte, rechnete er Zorn (orgê), Furcht (phobos), Mut (thrasos), Neid (phthonos), Freude (chara), Freundschaft (philia), Haß (misos), Sehnsucht (pothos), Eifer (zêlos), Mitleid (eleos), überhaupt jeden Seelenzustand, der mit Lust oder Unlust verbunden ist (Arist. Eth. Nicom. II, 4 p. 1104 b 20 ff.), die Kräfte oder Fälligkeiten sind dagegen die angeborenen Vermögen, aus denen die Affekte entstehen, und die Fertigkeiten bestehen in unserem ethischen Verbalten gegenüber den Leidenschaften. Die Stoiker verstehen unter Pathos nach Zenons Definition den Affekt, die[422] vernunftlose und naturwidrige Gemütsbewegung (hê alogos kai para physin psychês kinêsis ê hormê pleonazousa Diog. Laert. VII, 110). Das Pathos geht aus der Vernunft selbst durch das Übermaß eines Triebes hervor. Alle Affekte entstehen aus einem Fehler des Urteils, einer falschen Meinung über Gut und Böse und beziehen sich auf Gegenwärtiges (Lust und Trauer) oder Zukünftiges (Begierde und Furcht). (Vgl. Zeller, Gesch. der gr. Phil. IV, S. 207 ff.) Cartesius (1596-1650) übersetzt Pathos mit passion und definiert die Leidenschaft als Perzeption, Empfindung oder Erregtheit der Seele, die man nur auf sich bezieht und die durch Bewegung der Lebensgeister bewirkt und erhalten wird. Er nahm sechs Grundaffekte, Bewunderung, Liebe, Haß, Verlangen, Freude und Traurigkeit an. Spinoza (1632-1677) definiert die Leidenschaften als aus inadäquaten Ideen hervorgegangene Seelenzustände, welche die Macht des Menschen zu handeln vermehren oder vermindern, und nimmt nur drei Grundaffekte, Verlangen, Freude und Traurigkeit an, während Leibniz (1646-1716) die Affekte als Begehrungen faßt, welche aus der Meinung oder dem Gefühl stammen und mit Lust oder Unlust verbunden sind. Kant (1724-1804) schied zuerst deutlich Affekt und Leidenschaft: »Das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekte die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt, ist der Affekt .« »Die durch Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist die Leidenschaft.« »Den Affekt muß der Mensch zähmen, die Leidenschaft beherrschen, jenes macht ihn zum Meister, dieses zum Herrn über sich selbst.« Vgl. Anthrop. § 70 ff. – Pathos wird in der Ästhetik dem Ethos gegenübergestellt. Ethos, d.h. Charakter, ist das bleibende sittliche Gepräge, Pathos der vorübergehende Zustand, der auf diesem Charakter ruht. Das Pathos darf nicht als Hauptaufgabe der bildenden Künste betrachtet werden, weil sonst die Anschaulichkeit und Objektivität der Darstellung beeinträchtigt wird. Es muß vielmehr die Darstellung des Charakters des Handelnden als Grundaufgabe gelten. Doch scheiden sich die Epochen der Kunst, indem z.B. die des Phidias vorwiegend das Ethos, die des Praxiteles und Skopas vorwiegend das Pathos darstellt.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 422-423.
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