Axiom

[420] Axiom, eine Hypothese, auf der eine Wissenschaft aufgebaut wird, also z.B. in der Mechanik ein Satz, der nicht bewiesen werden kann. Alle Beweise in den mathematischen Wissenschaften sind Reduktionsmittel der Erkenntnis, d.h. sie sind Methoden, eine zusammengesetzte oder später auftretende Wahrheit auf einfachere oder frühere zurückzuführen. Es wird daher Grundsätze geben dürfen, die nicht auf einfachere oder frühere zurückzuführen, vielmehr als von solcher Evidenz anzusehen sind, daß sie eines Beweises nicht bedürfen.

In der Mechanik haben sich die Ansichten der Gelehrten in diesem Punkte noch nicht scharf geschieden. Diejenigen, die Bewegung als ein geometrisches Phänomen, einen Wechsel der Lage und Konstitution eines geometrischen Gebildes ansehen, können keine andern Axiome zulassen als die der Geometrie und der Zulassung der geometrischen Disziplinen zur Erkennung mechanischer Vorgänge. Dahin gehört vor allem die Zulassung der Theorie der Strecken und der Punktgrößen, wie sie Möbius und Graßmann eingeführt haben. Auf ihnen beruht die Theorie der Bewegungszustände und der Kräfte. Diejenigen dagegen, welche die Mechanik als physikalische Wissenschaft ansehen und sie für eine Beschreibung der Vorgänge in der Natur erklären, bedürfen der Axiome, wie sie Newton in seinen principia philosophiæ naturalis mathematica aufgestellt hat. Diese drei Sätze, denen das Kausalitätsprinzip zugrunde liegt, sind: 1. jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der geradlinigen Bewegung, solange er nicht durch äußere Kräfte zur Aenderung dieses Zustandes gezwungen wird (Prinzip der Trägheit der Materie); 2. die Aenderung der Bewegung ist proportional der bewegenden Kraft und erfolgt in der Richtungslinie derselben, und 3. die Kraftwirkungen zwischen zwei Körpern sind stets einander entgegengesetzt gleich (Prinzip der Aktion und Reaktion). Diese Sätze vermittelst die Anwendung der Begriffe und Sätze der theoretischen Mechanik auf die Natur, können aber nicht als Axiome dieser Wissenschaft selbst gelten. Sie können auch nicht experimentell begründet werden.

Der Physik muß gestattet sein, Hypothesen (Axiome) nach Bedürfnis zu konstruieren, abzuändern oder zu verwerfen; den streng mathematischen Disziplinen, zu denen man die heutige theoretische Mechanik rechnen kann, obgleich sie noch sehr unvollkommen ist, darf dies nicht gestattet sein. Sie hat nur nach dem Vorbilde der Geometrie zu arbeiten und ist in der Tat selbst großenteils Geometrie. Ihre Definitionen von Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Masse u.s.w. sind rein geometrisch zu fassen und in der Anwendung dieser Wissenschaft, die mit[420] rein gedachten Dingen zu tun hat, auf die Wirklichkeit, ist streng zu untersuchen, mit welchem Rechte oder in welchem Grade von Annäherung ein Körper oder ein physischer Vorgang als ein Punktsystem oder ein Bewegungszustand aufgefaßt werden darf, wie sie die theoretische Mechanik voraussetzt und voraussetzen muß. – Es gibt eine physikalische (technische) Mechanik und sie ist wissenschaftlich als experimenteller Zweig vollkommen berechtigt, muß aber möglichst scharf getrennt werden von der reinen Theorie, die ihre Sätze beweist und ihre Untersuchungen führt wie die Geometrie. Diese letztere leistet der ersteren bedeutende Stützen, darf sich aber selbst nur auf die Mathematik gründen, der sie als Zweig angehört. Die schon erwähnten N Axiome sind Sätze der physikalischen Mechanik. Sie sind in neuerer Zeit auf ihre Schärfe und ihren Sinn geprüft worden und lassen manches an Bestimmtheit nach Form und inhalt zu wünschen übrig. Vgl. a. Kraft.

Der axiomatischen Begründung der Mechanik stehen zurzeit hauptsächlich folgende Schwierigkeiten im Wege: 1. die Bestimmung gleicher Zeiträume; 2. die Festlegung des absoluten Koordinatensystems, in bezug auf welches das erste Newtonsche Gesetz (Trägheitsgesetz) gilt, und in dem die Beschleunigungen gemessen werden sollen; 3. die Bestimmung der Masse unabhängig von der Kraft.


Literatur: Mach, E., Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1889, 2. Aufl.; Voß, A., Die Prinzipien der rationellen Mechanik, Encyklopädie der mechan. Wissensch., Bd. 4, S. 3, Leipzig 1901.

(Schell) S. Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 420-421.
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