Fadenkurven

[566] Fadenkurven sind die Gleichgewichtsformen, die ein vollkommen biegsamer Faden unter Einwirkung kontinuierlich über ihn verteilter Kräfte annimmt. Schneidet man den Faden an irgend einem Punkte durch, so zerfällt das Gleichgewicht; um es zu erhalten, sind zwei entgegengesetzte gleiche Kräfte T längs der Tangente des Punktes einzuführen, die eine an dem einen, die andre an dem andern der beiden Fadenstücke angreifend, in welche der Faden zerfallen würde. Diese Kräfte heißen die Spannung des Fadens in jenem Punkte. Wir wollen die Gleichgewichtsbedingungen des Fadens für den Fall aufstellen, daß derselbe nicht dehnbar ist.

Es sei M M' ein unendlich kleines Bogenelement ds des Fadens, verschwindend im Punkte M (x, y, z). Trennen wir dasselbe ab, so sind in M und M' die beiden Spannungen längs den Tangenten in diesen Punkten anzubringen. Bezeichnet T die Spannung in M im Sinne des wachsenden Bogens, so ist T + dT die Spannung im folgenden Punkte M'; erstere ist in M, aber im entgegengesetzten Sinne als – T anzubringen. Bezeichnen wir einstweilen mit f die an dem verschwindenden Elemente ds wirkende Kraft, so besteht Gleichgewicht zwischen den drei KräftenT, f, T + dT (Fig. 1). Beziehen wir alles auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem und bezeichnen wir die Komponenten von T mit Tx, Ty, Tz, so werden Tx + d Tx, Ty + d Ty, Tz + d Tz die von T + dT und – Tx, – Ty,Tz die von – T sein. Sind fx, fy, fz ebenso die Komponenten von f, so bestehen an dem Punkte M, in dem das Fadenelement verschwindet, die drei Gleichgewichtsbedingungen: d Tx + fx = 0, d Ty + fy = 0, d Tz + fz = 0. Die Komponenten der Kraft f bildet man folgendermaßen: Denkt man sich eine Fadenlänge gleich der Einheit in allen Elementen von denselben Kräften beeinflußt wie das Bogenelement ds und bezeichnet die Resultante aller dieser Kräfte mit P, so hat man f : P = ds : 1, d.h. f = Pds, und hat P dieselbe Richtung wie f. Man nennt P die auf die Längeneinheit reduzierte Kraft. Bildet P mit den Koordinatenachsen die Winkel α, ß, γ, so werden fx = P cosa · ds = Xds, fy = Pcosß ·ds = Yds, fz = Pcosγ · ds = Zds, wenn X, Y, Z die Komponenten von P bedeuten. Da die Spannung T die Richtung der Tangente hat, deren Richtungscosinusse dx : ds, dy : ds, dz : ds sind, so werden Tx = T dx/ds, Ty = T dy/ds, Tz = T dz/ds und mithin die Gleichgewichtsbedingungen:


Fadenkurven

[566] Es sind Differentialgleichungen zweiter Ordnung; sie liefern durch Integration die Gleichungen der Fadenkurve und die Spannung. Ohne die Fadenkurve zu kennen, kann man in dem Falle, daß eine Kräftefunktion U für das Problem existiert, nämlich X = ∂U/∂x, Y = ∂U/∂y, Z = ∂U/∂z die partiellen Abteilungen einer solchen sind, die Spannung finden. Es ist nämlich, wie sich durch Multiplikation der Gleichgewichtsbedingungen mit dx/ds, dy/ds, dz/ds und deren Addition ergibt: – dT = X dx + Y dy + Zdz und folglich T – T = – (U – U0), wo T0, U0 ein Paar zusammengehöriger Werte der Spannung und der Kräftefunktion in einem Punkte x0, y0, z0 sind. Ist z. B. die Kraft P normal zur Fadenkurve, so ist X/P dx/ds + Y/P dy/ds + Z/P dz/ds = 0, also auch X dx + Y dy + Z dz = 0, d.h. d T = 0 und mithin T = konst. Dieser Fall tritt insbesondere ein, wenn der Faden auf einer glatten Fläche aufliegt, in welchem Falle der Normalwiderstand dieser die Kraft Pds ist. Ein über eine glatte Fläche hingespannter Faden nimmt die Form einer geodätischen Linie der Fläche an. Die Schmiegungsebene der Fadenkurve enthält stets die Flächennormale.

Besondere Wichtigkeit haben die Fadenkurven für Parallelkräfte Pds. Man erkennt unmittelbar, daß in diesem Falle die Kurve eine ebene sein muß, und wenn man die Richtung der Kräfte zur Richtung der y-Achse, die zu dieser senkrechte Richtung zur Richtung der x-Achse und die Ebene der Kurve zur xy-Ebene wählt, so werden die Gleichgewichtsbedingungen wegen X = 0, Z = 0, z = 0:

d (T dx/ds) = 0, d (T dy/ds) + Y ds = 0.

Durch Integration der ersten Gleichung folgt T dx/ds = T0. Wird T hieraus in die zweite Gleichung eingesetzt, so erhält man die Differentialgleichung der Fadenkurve: T0 d2y/dx2 + Y ds/dx = 0.

Für einen homogenen schweren Faden ist Y ds = – δgds das Gewicht des Bogenelementes ds, wenn δ die spezifische Masse des Fadens (Masse der Längeneinheit) ist. Die Gleichgewichtsform des Fadens heißt die Kettenlinie (Fig. 2). Für sie ist, wenn man den Anfangspunkt des Bogens s in den tiefsten Punkt der Kurve verlegt, in dem die Tangente horizontal und folglich T1 = 0 ist: T dx/ds = T0, T0 dy/dx – δgs = 0, woraus dy/dx = s/α folgt, indem man die konstante Horizontalspannung T0 = δga setzt. T0 wird dadurch als das Gewicht einer Fadenlänge α dargestellt, welche Konstante der Parameter der Kettenlinie heißt. Bezeichnet v den Winkel der Tangente mit der Vertikalen, so nimmt die Differentialgleichung der Fadenkurve die Form an: s = a cotg φ. Differenziert man sie und berücksichtigt, daß dx = ds sin φ, dy = ds cos φ, dy/dx = cotg φ ist, so ergeben sich leicht die Koordinaten x, y als Funktionen von φ. Es wird nämlich, wenn die γ-Achse durch den tiefsten Punkt (Scheitel) und der Koordinatenursprung um die Strecke a vertikal unter den Scheitel gelegt wird,


Fadenkurven

Hiermit findet man leicht


Fadenkurven

als Gleichungen der Kurve, welche y und s als Funktionen von x liefern. Für die Spannung T hat man T = T0 ds/dx = T0 : sin φ oder, da T0 = δgα und y = α : sin φ ist, T = δgy, d.h. die Spannung ist der Ordinate y proportional und gleich dem Gewichte eines Fadens von der spezifischen Masse der Kettenlinie und der Länge gleich der Ordinate y.


Literatur: Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, Leipzig 1879, Bd. 2, S. 83 und 88–107.

(Schell) Finsterwalder.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 2.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 566-567.
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