Wunder

[435] Wunder – Das Muster eines Scheinbegriffs. In der adjektivischen Welt freilich nennen wir mit gutem Sinne eine Erscheinung wunderbar, die entweder selten oder außerordentlich ist, oder die wir nach unserer bisherigen Naturkenntnis nicht erklären, nicht begreifen können. Auf diese Vorstellung des verbalen mirari, sich wundern, geht das lateinische miraculum zurück, welches Wort noch nicht das Wunder der christlichen Theologie bedeutete. Die sieben miracula der Alten waren nicht göttliche Wunder, sondern nur merkwürdige, staunenswürdige Bauwerke. Der Zufall des Bedeutungswandels hat sogar lateinisch mirari zu so weit entlegenen Worten wie französisch miroir (Spiegel), mirage (Luftspiegelung) und merveilleux (Stutzer) umgebildet. Auch bei den Juden war der christliche Wunderbegriff noch nicht rein herausgearbeitet; die orientalische Freude an Märchenzauber ließ gleicherweise an Wundertaten Jehovas und der Götzen glauben; Moses und die ägyptischen Zauberer überboten einander an Wundern; und die christlichen Theologen hatten Mühe genug, die einen Wunder dem Gotte, die andern dem Gegengotte oder dem Teufel zuzuschreiben. Erst die christliche Theologie unterschied das Wunder von den außerordentlichen Erscheinungen (Kalb mit zwei Köpfen) und den unbegreiflichen Wirkungen (Radium); erst die Scholastik machte das Wundertum zu einem Monopol des allmächtigen Gottes, der der Natur ihre Gesetze gegeben hatte, also diese Gesetze wieder aufheben konnte. Es gab in diesen Betrachtungen einen allerliebsten Zirkelschluß: weil der allmächtige Gotte existierte, konnte er Wunder tun, und weil man an Wunder glaubte, mußte es einen allmächtigen Gott geben.

Um den Scheinbegriff des Wunders, welcher den Glauben an Gott stützte, konnte so durch 2000 Jahre ein erbitterter Kampf geführt werden, der eigentlich erst seit wenigen Jahrzehnten auf die Niederungen geistiger Streitigkeiten eingeschränkt worden ist. Es soll nicht vergessen werden, daß Spinoza als einer der[435] ersten den Scheinbegriff des Wunders bekämpfte; der Haß gegen Spinoza stammte zumeist daher, daß man in seiner Leugnung der Wunder, und nicht ganz mit Unrecht, eine Leugnung des populären Gottesbegriffs erblickte.

Will man aber mit dem Scheinbegriffe Wunder ganz fertig werden, so darf man sich gegen den Wunderglauben nicht allein auf das Gesetz der Kausalität berufen. Solange ein wirkender Gott Wunder tun kann, solange ist ja das Gesetz der Kausalität nicht erschüttert, höchstens die mangelhaft bekannten Naturgesetze. Wenn Griechen und Römer an außerordentliche Eingriffe ihrer Götter glaubten, wenn der Neger an außerordentliche Wirkungen seines Fetisches glaubt, dann erscheinen so naivem Glauben diese wunderbaren Ereignisse eigentlich nicht als übernatürlich. Es wäre nur eine Aufgabe der Logik, der Logik eines Thomas, das Gesetz der Kausalität auf die Kräfte oder die Eigenschaften Gottes auszudehnen. Nicht eine Frage des Kausalitätsbegriffs, sondern eine Frage der Geschichtswissenschaft ist das Wunder. Wer an Märchen glaubt wie an die Bibel, für den sind unzählige Wunder bezeugt. Nur daß eine kritische Geschichtswissenschaft aus Vergangenheit und Gegenwart kein einziges Wunder zu berichten weiß.

Wunder bezieht sich ursprünglich und bis auf die Zeit unserer Klassiker auf das Gefühl des Staunens, wie das Verbum sich wundern; wie heute noch in der Redensart: es (d.h. eigentlich dessen) nimmt mich Wunder. Übrigens mag sich der Ochse über ein Kalb mit zwei Köpfen wundern; der Weise wundert sich über ein normales Kalb, wundert sich, staunt über jede Mücke.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 435-436.
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