Wunder

[756] Wunder sind im Allgemeinen außerordentliche, ungewöhnliche Ereignisse, welche den Augenzeugen derselben Verwunderung abnöthigen; sie werden im engern Sinne so und auch Mirakel genannt, wenn sie zugleich die Wirkung von uns noch unbekannten Naturkräften zu sein und daher unerklärlich und übernatürlich scheinen. Indem es hiernach bei den Berichten von Wundern, welche sich zugetragen haben sollen, wesentlich auf die größere oder geringere Einsicht der Beobachter in die Naturkräfte und Naturgesetze ankommt, erhellt daraus einerseits, wie für Wunder ausgegebene Vorgänge sehr früher Zeiten uns um so dunkler bleiben, je weniger wir festzustellen vermögen, mit welchen Augen die unmittelbaren Zeugen und ersten Erzähler solche Ereignisse betrachtet haben, und wie andererseits mit dem Zunehmen der Bildung und der Einsicht in die Natur der Glaube an Wunder zum Vortheil der Menschheit abnehmen muß. Vortheilhaft ist das nämlich darum, weil der Wunderglaube nicht zur wahren Überzeugung, sondern blos zum blinden Autoritätsglauben führen kann, der nur auf Dem beruht, was Andere glauben oder zu glauben versichern. Darum verbot schon das Mosaische Gesetz, einem Propheten, wenn er auch Zeichen und Wunder thue, zu glauben, sobald er Abgötterei predige, und Jesus selbst tadelte seine Zeitgenossen, daß sie nicht glauben wollten, wenn sie nicht Zeichen und Wunder sähen (Joh. 4, 48.; Matth. 12, 38–42. 16, 1–4.). Es werden nämlich darunter Handlungen und Ereignisse verstanden, aus denen man auf die göttliche Bestätigung einer Lehre schließen soll, d.h. durch welche Gott uns zu erkennen gebe, daß wir sie gläubig hinzunehmen hätten. Was nun die in der Bibel erzählten Wunder anlangt, so sind die meisten so kurz und alle ohne eine zur Beurtheilung hinlängliche Angabe der Nebenumstände mitgetheilt, daher auch die sogenannten natürlichen Erklärungen derselben sehr unvollkommene Versuche geblieben sind. Übrigens sprach schon der Kirchenvater Augustinus aus: »Gott thut in den Wundern nichts wider die Natur; ungewöhnliche Dinge scheinen uns widernatürlich, allein nicht Gott, welcher die Natur gemacht hat.« Es würde indessen stets eine unstatthafte Anmaßung sein, wollte man die Möglichkeit der Wunder im strengen Sinne leugnen, nur ist es Jedem zu überlassen, was er davon glauben will. Der Hang, überall Wunder zu erblicken, wo natürliche Gründe zur Erklärung nicht gleich ausreichen, wird auch Wundersucht genannt und ist allemal Folge eines Mangels an Kenntnissen und Verstandesbildung, den Quellen des Aberglaubens. Er ist dem Forschen nach Wahrheit hinderlich, lähmt den Geist, begünstigt [756] eine Menge Betrügereien, verleitet zu Fanatismus und Sektenhaß und verdirbt die religiös-moralische Gesinnung. – Wunder- und wunderthätige Bilder, auch Gnadenbilder heißen Bilder von christlichen Heiligen, deren Anbetung, Berührung oder Anschauung allein heilsame und wunderthätige Wirkungen, besonders Hebung von Krankheiten hervorbringen soll, und von denen das Nämliche, wie von den Reliquien (s.d.) zu halten ist. – Mit dem Namen der sieben Wunderwerke der Welt werden einige bewundernswerthe Werke der Kunst des Alterthums bezeichnet, und 'gewöhnlich zählt man dazu: die ägypt. Pyramiden, die Mauern von Babylon (s.d.) und die hängenden Gärten der Semiramis, den Dianentempel zu Ephesus (s.d.), die von Phidias gearbeitete Bildsäule des Jupiter zu Olympia, den Koloß zu Rhodus (s.d.), das Grabmal des Königs Mausolus (s. Denkmale) zu Halikarnassus, den Leuchtthurm oder Pharus zu Alexandria. Manchmal wird anstatt der Jupiterstatue oder des mausolischen Grabmales auch das Labyrinth (s.d.) aufgezählt. – Wunderthäter oder Thaumaturgen nach dem Griechischen werden Personen genannt, von welchen man glaubt, daß sie Wunder im eigentlichen Sinne gethan haben oder noch thun, denn sowol die älteste als die neueste Zeit hat von Wunderthätern in allen Ständen der menschlichen Gesellschaft, unter Bauern und Fürsten zu erzählen, und in letzter Hinsicht mag hier nur an den Bauer Martin und den Fürsten Hohenlohe erinnert werden. Auch die Könige von Frankreich galten sonst dafür, indem sie bei ihren Krönungen durch bloßes Handauflegen Kröpfe geheilt haben sollen. Ihre Wunder wirkende Kraft muß aber ausgegangen sein und der zuletzt gekrönte Karl X. unternahm gar nicht erst die Versuche, sondern begnügte sich, den ihm vorgeführten Kranken im Namen Gottes gute Besserung zu wünschen. – Wunderbar wird in gleicher Bedeutung mit dem Worte Wunder selbst von allen aus gleichen Gründen nicht erklärlichen Dingen gebraucht. In der schönen Kunst heißt dergleichen auch das ästhetische Wunderbare, und die Dichtkunst macht besonders im Romantischen und im Heldengedicht gern davon Gebrauch, weil es bei geschickter Benutzung die Aufmerksamkeit und Einbildungskraft ungemein in Anspruch nimmt.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 756-757.
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