Treu und Glauben

[696] Treu und Glauben, dieses Wortpaar, seit langem schon im Munde des Volkes und bei Schriftstellern zu finden, ist durch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch zu einem Rechtsbegriff geworden. Es weist auf eine Art der Rechtsfindung hin, die das Ermessen des Richters, d. h. die unparteiische Abwägung der im Streitfalle miteinander in Widerspruch geratenen rechtlichen Interessen, mit Rücksicht auf die Verkehrssitte eintreten läßt. Die Grundsätze von T. sollen ausschlaggebend sein, wenn für die Streitentscheidung eine gesetzliche oder im Vertrage getroffene Anordnung fehlt (Bürgerliches Gesetzbuch, § 242), oder wenn und soweit anzunehmen ist, daß das Wort des Gesetzes oder Vertrages seines ungenügenden Gedankenausdrucks wegen weiterreicht, oder nicht so weit reicht, als es nach verständiger Würdigung der Verhältnisse der Fall sein sollte (Bürgerliches Gesetzbuch, § 257). Diese Vorschriften dienen wesentlich dazu, die rechtlichen Entscheidungen mit der Billigkeit und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein in Einklang zu bringen, also das zu erreichen, was der Laie nach gewöhnlichem Sprachgebrauche durch jene Worte als Ziel bezeichnen will. Vgl. Schneider, Treu und Glauben (Münch. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 696.
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