7. Kapitel.

Die Verteilung der Gaben und Namen.

[175] Die auffälligen Unterschiede im Aussehen und in der Lebensweise der Tiere werden in den meisten Sagen durch diese selbst herbeigeführt. Aus dem ebenso einfachen wie wandelbaren Gedanken, daß Vorgänge, wie der Eigentums Wechsel oder das Wetten, von bestimmender und dauernder Wirkung auf natürliche Beschaffenheiten sein können, ergeben sich unzählige Geschichten. Bisweilen, wie im vorigen Kapitel, ist jedoch auch von Gottheiten die Rede, die außerhalb der Tierwelt stehen, in diese eingreifen und Veränderungen hervorbringen. In einer besonderen Gruppe hören wir auch von[175] einem oder mehreren Schöpfungstagen, und was die Tiere da erlebt haben. Diese Gruppe setzt eine weit höhere Geistesbildung voraus, als die Geschichten von schaffenden oder umschaffenden Tieren. Sie findet sich daher fast ausschließlich bei kultivierten Völkern, die ihren Glauben an den persönlichen Gott auch in den Sagen nicht verleugnen. Der wesentliche, allen Fassungen gemeinsame Inhalt ist der, daß der Schöpfer seine Gaben austeilt oder die Tiere benennt. Zur Strafe für Unzufriedenheit, Hochmut, Trotz, Säumnis, Vergeßlichkeit erhalten einige ein Kennmal für alle Zeiten. Tiere, die zu spät kommen, müssen sich mit den beim Verteilen übrig gebliebenen Resten begnügen.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 175-176.
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