A. Die Königswahl der Vögel.

[160] Eine der ältesten Übertragungen menschlicher Verhältnisse in die Welt der Tiere liegt unzweifelhaft vor in der Wahl eines irgendwie ausgezeichneten Tieres zur Herrschaft über seinesgleichen.

Da schon die Bäume sich einen König erwählten1, die doch festwurzelnd an einem Ort gezwungen sind ein passives Dasein zu führen, wieviel mehr bedurften nicht die Tiere eines Leiters und Herrn! Zahlreich und alt sind die Zeugnisse über Tierkönige, und wohl unter allen Völkern der Erde gibt es Geschichten, die von ihnen, den Mächtigen und Gefürchteten, erzählen.

Es soll uns zunächst die Königswahl der Vögel beschäftigen, bei der wir auf den eigentümlichen, schon von Jakob Grimm bemerkten2 Zug stoßen, daß die »Königswürde entweder dem größten und mächtigsten oder umgekehrt dem kleinsten und dem zierlichsten Geschöpf einer Gattung« übertragen wird. So stehen sich der Adler, gewiß der alte, ursprüngliche Herrscher der Vögel, und der winzige Zaunkönig einander gegenüber, und wie in dem Däumlingsmärchen, so ist auch hier das Bild des kleinen schlauen Helden mit starker Anteilnahme, aber nicht ohne Spottlust gezeichnet. Wichtig für den Nachweis der weiten Verbreitung der[160] Zaunkönigsage3 sind die zahlreichen Namen, die dem Zaunkönig beigelegt werden4 und in ganz Europa zu finden sind. Im Griechischen heißt er τρόχιλος, βασιλίσκος, im Lateinischen trochilus, regulus, avis regaliolus, italienisch reatino, re di siepe, re di macchia, französisch roitelet, berichot5, spanisch reyezuelo, reyecillo; im Althochdeutschen heißt er kunigli, im Mittelhochdeutschen küneclin, und in Geilers von Kaisersperg Postill (fol. 155, Fritsch 2, 466a) lesen wir: »regulus heißt ein vöglin, ist vast klain, zunschlipferlin, das sich wider den Adler strueßet«6; im Holländischen tuinkoningje und viele andere Namen, im Dänischen gjerde konge (Heckenkönig), fugle konge, im Schwedischen kungs-fogel; bei den Kleinrussen koroljok7 (kleiner König) und den Großrussen krapivnik (von krapiva Nessel); litauisch nyksztukẽlis (nykßtùkas Deminut. von nykßtỹs der Daumen, vgl. Kurschat, Wörterbuch 2, 275). Alle diese Namen können als Belege für die Zaunkönigssage gewertet werden, wir haben jedoch noch wichtigere Zeugnisse.

So sind allbekannt die Anspielungen auf den Wettstreit zwischen Adler und Zaunkönig bei Aristoteles, Hist. animal. 9, 11, wo es heißt καὶ τρόχιλος ἀετῷ πολέμιος, und bei Plinius, Hist. nat. lib. X, cap. 74: dissident aquila et trochilus, si credimus, quoniam rex appellatur avium.8

Wir finden dann bei Alexander Neckam die vollständige Fassung der Sage (de naturis rerum lib. I, cap. 78, ed. Thomas Wright p. 122 f.), die er folgendermaßen erzählt:


Die Vögel machten unter sich aus, daß derjenige die Königswürde erhalten sollte, der durch hohen Flug alle anderen überträfe. Der Zaunkönig verbarg sich unter dem Flügel des Adlers und suchte sich einen günstigen Zeitpunkt. Als nämlich der Adler nahezu am Himmelsgebäude angelangt war und schon die Herrschaft für sich beanspruchte, da erdreistete er sich, auf den Kopf des Adlers zu fliegen, indem er behauptete, Sieger zu sein. Und so erhielt er den Namen regulus. (Sicque nomen reguli obtinuit.)


Hier liegt also wie in zahlreichen jungen mündlichen Varianten die Namensdeutung der Ätiologie zugrunde, ohne daß dem vermeintlichen Sieger nun auch die Königswürde wirklich übertragen wird.

Dieser letztere ätiologische Schluß findet sich jedoch in einer Sammlung hebräischer Tierfabeln, die der Rabbi Baradja Nikdani oder Hannakdan[161] in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts dichtete. Hieraus teilte W. Grimm in Wolfs Zeitschrift für deutsche Mythologie 1, 2 das folgende Stück mit:


Der Zaunschlüpfer war König durch List, nicht durch Tapferkeit, und ward über die andern Vögel gesetzt, obgleich er der kleinste ist.

Als nämlich sich die Vögel versammelt hatten, einen König zu wählen, wurden sie einig, daß derjenige es werden solle, der am höchsten fliegen könne. Der Adler sprach: »Wer unter den Vögeln kann sich mit mir vergleichen und wer ist schneller als ich?«

Der Zaunschlüpfer aber dachte: Ich will mich von ihm in die Höhe tragen lassen; und setzte sich unter die Flügel desselben. Die Vögel flogen auf, und der Adler stieg noch einmal so hoch als die übrigen. Da rief er: »Ich bin der Herr der Vögel!« Als der Zaunschlüpfer sah, daß der Adler ermüdet war und nicht weiter konnte, nahm er alle seine Kräfte zusammen und flog noch ein Stück weiter in die Höhe. So ward ihm der Preis und er der König der Vögel.


»Einen neuen Beleg für die lebendige Verbreitung dieser Sage in Deutschland noch während des Mittelalters, ein Mittelglied gleichsam zwischen jenem jüdischen Zeugnis des 13. Jahrh. und den Überlieferungen aus der Gegenwart« gibt Franz Pfeiffer in der Germania 6, 81 »durch Mitteilung eines Gedichtes aus dem 15. Jahrh., das in einer fast dramatischen Gestalt das Märchen vom Zaunkönig erzählt. Es steht in der Handschrift der K. Hof- und Staatsbibliothek zu München Cod. germ. 714 Pap. in Quart. Die rohe Form und Verwilderung in Vers und Reim sind ein Merkmal aller bürgerlichen Dichtung des 15. Jahrh.« – Der Inhalt dieses Gedichtes ist folgender:


Zu den Zeiten, als das Geflügel noch redete und sprach, versammelten sich die Vögel auf Betrieb des Adlers, und dieser stellte, da alle lebenden Wesen ihr Oberhaupt hätten, den Antrag, daß auch sie sich zur Wahrung ihrer Sicherheit und ihres Ansehens einen König wählten. Dieser Vorschlag fand Beifall, und sie traten zu einer Beratung über die beste Art und Weise der Wahl zusammen. Sie kamen aber zu keiner Einigung, und es erhob sich zum großen Ärger des Adlers ein wüstes Geschrei unter der uneinigen Schar. Da sprach der Falke, es scheine ihm das beste, wenn sie um das Königreich flögen: wer am höchsten auffliegen könne, der solle König sein. Dessen war der Adler zufrieden, vor ihnen allen schlug er sein Gefieder zusammen und rief: »Wohlan, so wollen wir um das Königreich fliegen.« Das hörte ein kleines Vöglein, wohl das kleinste von allen, und setzte sich unbemerkt auf seinen Bücken. Als der Adler über alle hinauf bis in die Wolken gestiegen war, rief er: »Das Königreich ist mein,« und alle sprachen: »Ja, es ist dein, denn du bist allen vorausgeflogen.« Da tat das Vöglein, indem es sich noch höher in die Wolken schwang, einen Ruf: »Nein, das kann nicht sein, von Recht gehört das Königreich mir.« Darob erschrak der Adler und tat, indem er sich nach dem Vöglein umsah, das selbst König sein wollte, einen Schlag. Da sah er es hoch über sich in den Wolken und klagte unter Drohungen gegen das Vöglein, daß er ihm nicht nachkommen könne. Dieses verkroch sich erschreckt und die Rache des Adlers fürchtend in seine schützende Hecke. Auf die Frage des Falken, wo denn ihr König hingekommen, antwortete der Adler: »Er hat sich[162] vor meinem Zorn versteckt. Da aber Gott es so gefügt und ich nicht König sein kann, so möge er kommen, damit wir ihn bestätigen.« Der Falke schlägt vor, einen Boten an ihn abzusenden, der ihn rasch herbeikommen heiße. Die Schwalbe empfiehlt dazu die Kohlmeise, weil sie des Königs Tagreise kenne. Diese schwingt sich auf ihren Weg und richtet dem Könige die Botschaft aus, indem sie ihn der friedlichen Gesinnung des Adlers und der Bereitwilligkeit aller Vögel, ihn als König zu ehren, versichert. Als die Kohlmeise ihnen das Königlein vorstellte, empfingen sie ihn schön und setzten ihm eine Krone auf und gelobten ihm Gehorsam. (Vers 1–144.)


Auch für das 16. Jahrhundert haben wir ein Zeugnis: ein alter franzosischer Ornithologe [Livre VII de la Nature des Oyseaux par P. Belon (1555) p. 342] bemerkt, gestützt auf die Autorität des Aristoteles, daß den Adler, ungeachtet der winzigen Größe des Zaunkönigs, der Gedanke quält, wer die Herrschaft über alle Vögel besitze.9

Schließlich möge hier noch ein Zeugnis Platz finden, das sich auf die Zeit der Christianisierung Irlands bezieht (5. Jahrhundert).

Vallancey, Collectanea de Rebus Hibernicis Nr. 13, p. 97 (1770–1804 in 7 Bänden), sagt nämlich in bezug auf den Zaunkönig, den Lieblingsvogel der Auguren, daß die Druiden ihn als den König aller Vögel ansehen, und daß der Aberglaube über diesen kleinen Vogel bei den ersten christlichen Missionaren Ärgernis erregte. Unter ihrer Herrschaft wurde der Zaunkönig von den Bauern am Weihnachtstage und an dem folgenden, dem St. Stephanstage10, verfolgt und getötet.

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 160-163.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon