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[189] Die Wühlechsen oder Wühlschleichen (Scincoidea), eine sehr reiche, in sechzig Sippen gegen dreihundert Arten umfassende Familie, sind ebenso verschiedenartig gestaltet als die Seitenfaltler und zeigen, wie man sich auszudrücken pflegt, die allmählichen Uebergänge von der Echsen- und Schlangengestalt durch Verkümmerung der Gliedmaßen und Verlängerung des Leibes. Die Beine sind, wenn überhaupt vorhanden, stets kurz, bei einigen auf zwei herabgesunken, bei vielen verkümmert; die Zähne haften mit ihren Wurzeln dem inneren Rande der Zahnrinne an; die Zunge ist kurz, zweispitzig oder eingeschnitten, ganz oder theilweise schuppig; das meist sichtbare Ohr wird zuweilen durch die Haut überdeckt; das Auge besitzt Lider, deren unteres und größeres in der Mitte durchbrochen, beziehentlich an dieser Stelle mit durchsichtiger Haut, gleichsam einem Fenster, versehen sein kann. Regelmäßige Schilder bekleiden den Kopf, gleichartige in der Fünfform stehende Schindelschuppen Rücken, Bauch und Seiten. Eine Seitenfurche fehlt; auch Schenkel- und Leistenporen sind nicht vorhanden.
Der Verbreitungskreis der Wühlechsen ist sehr ausgedehnt. Sie leben in allen Erdtheilen und von den äußersten Grenzen der gemäßigten Gürtel an bis zum Gleicher hinab, besonders zahlreich in Neuholland, in namhafter Anzahl aber auch in Asien, Afrika und Amerika, während sie in Europa schwach vertreten sind. Ihre Lebensweise ist noch sehr unbekannt, dies aber lebhaft zu bedauern, weil die wenigen Arten, welche einigermaßen eingehend beobachtet werden konnten, ebenso absonderliche als anziehende Eigenschaften bekunden.
Im allgemeinen dürfen wir wohl annehmen, daß alle Wühlschleichen mehr oder weniger an den Boden gebannt sind und nur ausnahmsweise und auch dann bloß in beschränktem Grade klettern. Dafür besitzen sie eine Fertigkeit, welche den meisten übrigen Echsen abgeht; denn sie sind im Stande, wenn auch nicht mit der Kraft, so doch mit der Gewandtheit des Maulwurfes, unter der Oberfläche der Erde sich zu bewegen. Fast alle bekannteren Arten nehmen ihren Aufenthalt auf [189] trockenen Stellen und scheuen oder meiden das Wasser, obschon es vorkommen mag, daß sie noch unmittelbar über der Hochflutmarke am Seegestade gefunden werden. Am liebsten hausen sie da, wo feiner Sand auf weithin den Boden deckt, außerdem zwischen Geröll, dem Gestein zerbröckelter Felskegel, an oder in weitfugigem Gemäuer und ähnlichen Orten; aber nur die wenigsten suchen in den hier sich findenden Ritzen und Spalten Zuflucht und Nahrung, sondern graben sich in den Sand ein und bewegen sich dicht unter der Oberfläche mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit. Ihr mit glatten Schuppen bekleideter, mehr oder minder spindelartiger Leib, die kurzen, stummelhaften Beinchen und die durchsichtigen Fenster in den unteren Augenlidern befähigen sie zu solcher Wühlerei und werden, um mich so auszudrücken, erst dann verständlich, wenn man ihr Thun und Treiben beobachtet hat. In einem gewöhnlichen Käfige, dessen Boden mit einer dünnen Kies- und Moosschicht bedeckt ist, kann man freilich von solchen Bewegungen nichts wahrnehmen; gewährt man ihnen jedoch einen größeren Raum und beschüttet den Boden desselben mindestens sechs, besser zehn und mehr Centimeter hoch mit feinkörnigem Sande, so wird man mit derselben Ueberraschung wie ich angefangenen Walzenschleichen und zwar Tiligugus (Gongylus ocellatus), an allen ähnlich gebauten Gliedern der Familie gewahren, daß sie sofort in dieser Sandschicht verschwinden, förmlich in dieselbe eintauchen, und sie nunmehr in verschiedener Tiefe nach allen Richtungen durchwühlen. Alles dies, insbesondere aber die Bewegung in wagerechter Richtung, geschieht so leicht, so rasch, wie eine nicht erschreckte oder geängstigte Eidechse auf dem Boden zu laufen pflegt. Wirft man den vollständig bedeckten Wühlschleichen, deren Fortschreiten man an der Erschütterung des Sandes über ihnen bequem beobachten kann, eine Leckerei, beispielsweise Mehlwürmer, auf den Boden ihres Käfigs, so nähern sie sich sofort der Beute, erheben sich bis hart unter die Oberfläche, betasten den Wurm einige Male mit der Zunge, welche meist auch jetzt noch der einzige sichtbare Theil von ihnen ist, schieben hierauf rasch das Köpfchen aus dem Sande hervor, packen das Opfer und erscheinen nun entweder ganz außerhalb ihres eigentlichen Elementes oder ziehen sich ebenso rasch, als sie gekommen, wiederum in die sie bergende Sandschicht zurück. Nach diesen Erfahrungen, welche bereits früher durch ähnliche, jedoch nicht umfassende Beobachtungen angedeutet wurden, ist die Folgerung wohl gerechtfertigt, daß die Wühlschleichen durchschnittlich in gleicher oder doch entsprechender Weise verfahren und auch ihre Jagd auf allerlei Kleingethier, vom Säugethiere oder Vogel an bis zum Wurme herab, unterirdisch betreiben werden. Möglicherweise erwachsen ihnen noch besondere Vortheile aus ihrer, dem Anscheine nach weit hinter der Gewandtheit anderer Echsen zurückstehenden Fertigkeit: es läßt sich denken, daß die großen, plump gebauten Arten, welche im Käfige ohne Umstände rohes Fleisch annehmen und in großen Bissen hinabwürgen, solcher Art nicht allein ungesehen, sondern auch in nicht Verdacht erregender Weise an Wirbelthiere, welche auf dem Boden sitzen, heranschleichen und sie unversehens von unten packen, ihr tägliches Brod also mit ungleich größerer Leichtigkeit gewinnen, als wir bei oberflächlicher Würdigung ihrer Gestalt anzunehmen im Stande waren. Doch ich will den sicheren Boden der Beobachtung nicht verlassen und nochmals ausdrücklich bemerken, daß letztere Ansicht nur auf Folgerungen, nicht aber auf bestimmten Wahrnehmungen beruht. Daß die Wühlechsen übrigens auch auf dem Boden keineswegs fremd sind, beweisen die Walzenschleichen ebenso gut wie die Blind- und Erzschleiche, welche wir bald kennen lernen werden, oder eine von Gosse nach dem Leben geschilderte mittelamerikanische Art der Familie.
Ueber die Fortpflanzung wissen wir ebenfalls noch herzlich wenig, immerhin aber so viel, daß mit Ausnahme einer einzigen, alle übrigen Arten, welche in dieser Beziehung beobachtet wurden, bereits im Mutterleibe gezeitigte Junge zur Welt bringen, also nicht Eier legen.
Die in so vieler Beziehung abweichende Lebensweise mag wohl die Hauptursache gewesen sein, daß die scharf beobachtenden und in Deutungen sich gefallenden alten Egypter eine Wühlechse sorgfältig balsamirten und in kleinen, zierlich geschnitzten, äußerlich das Abbild der betreffenden Echse zeigenden Särgen den Mumien ihrer Todten beigaben; möglicherweise galt die betreffende [190] Art, die Keilschleiche (Sphenops capistratus) der Forscher, auch schon damals als heilkräftig, wie späterhin eine verwandte Art, von welcher ich sogleich zu reden haben werde. Heutzutage sehen wir in allen Wühlschleichen höchstens noch mehr oder weniger harmlose und nützliche Geschöpfe, in einzelnen von ihnen auch wohl fesselnde oder doch unterhaltende Gefangene, wogegen die Beduinen der Wüsten und Wüstensteppen Syriens und Palestinas, welche sie bezeichnend »Sandfische« nennen, ihnen des weißen, zarten und schmackhaften Fleisches halber eifrig nachstellen, und sie mit Behagen verzehren, ob auch der from me Ausleger des Koran in ihnen unreine Speise wittern möge.
Gefangene Wühlechsen sind sehr niedlich. Die meisten von denen, welche man in enger Haft pflegte, halten sich recht gut, einzelne vortrefflich, gewöhnen sich bald an den Verlust ihrer Freiheit, bis zu einem gewissen Grade auch an den Pfleger, verursachen geringe Mühewaltung und erfreuen durch ihr schmuckes Aeußere ebenso wie durch ihre sonstigen Eigenschaften, so daß wir nur bedauern können, noch immer so wenige von ihnen lebend auf unserem Thiermarkte zu sehen, namentlich aber die großen Arten zu vermissen.
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