Dritter Abschnitt
Das Maß

[387] Im Maße sind, abstrakt ausgedrückt, Qualität und Quantität vereinigt. Das Sein als solches ist unmittelbare Gleichheit der Bestimmtheit mit sich selbst. Diese Unmittelbarkeit der Bestimmtheit hat sich aufgehoben. Die Quantität ist das so in sich zurückgekehrte Sein, daß es einfache Gleichheit mit sich als Gleichgültigkeit gegen die Bestimmtheit ist. Aber diese Gleichgültigkeit ist nur die Äußerlichkeit, nicht an sich selbst, sondern in anderem die Bestimmtheit zu haben. Das Dritte ist nun die sich auf sich selbst beziehende Äußerlichkeit; als Beziehung auf sich ist es zugleich aufgehobene Äußerlichkeit und hat an ihr selbst den Unterschied von sich, der als Äußerlichkeit das quantitative, als in sich zurückgenommene das qualitative Moment ist.

Indem die Modalität unter den Kategorien des transzendentalen Idealismus nach der Quantität und Qualität, auf Einschiebung der Relation, aufgeführt wird, so kann derselben hier erwähnt werden. Diese Kategorie hat daselbst die Bedeutung, die Beziehung des Gegenstandes auf das Denken zu sein. Im Sinne jenes Idealismus ist das Denken überhaupt dem Ding- an-sich wesentlich äußerlich. Insofern die anderen Kategorien nur die transzendentale Bestimmung haben, dem Bewußtsein, aber als das Objektive desselben, anzugehören, so enthält die Modalität, als die Kategorie der Beziehung auf das Subjekt, insofern relativ die Bestimmung der Reflexion-in-sich; d.h. die Objektivität, welche den anderen Kategorien zukomme, mangelt denen der Modalität; diese vermehren, nach Kants Ausdruck, den Begriff als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten, sondern drücken nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen aus (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., s. S. 99, 266). – Die Kategorien, die Kant unter der Modalität zusammenfaßt, Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, werden[387] in der Folge an ihrer Stelle vorkommen; Kant hat die unendlich wichtige Form der Triplizität, sosehr sie bei ihm nur erst als ein formeller Lichtfunken erschienen, nicht auf die Gattungen seiner Kategorien (Quantität, Qualität usf.), wie auch diesen Namen nur auf deren Arten angewendet; daher hat er nicht auf das Dritte der Qualität und Quantität kommen können.

Bei Spinoza ist der Modus nach Substanz und Attribut gleichfalls das Dritte; er erklärt ihn für die Affektionen der Substanz oder für dasjenige, was in einem Anderen ist, durch welches es auch begriffen wird. Dieses Dritte ist nach diesem Begriffe nur die Äußerlichkeit als solche; wie sonst erinnert worden, daß bei Spinoza überhaupt der starren Substantialität die Rückkehr in sich selbst fehlt.

Die hier gemachte Bemerkung dehnt sich allgemeiner auf die Systeme des Pantheismus aus, welche der Gedanke etwas ausgebildet hat. Das Sein, das Eine, die Substanz, das Unendliche, das Wesen ist das Erste; gegen dieses Abstraktum kann das Zweite, alle Bestimmtheit, überhaupt als das nur Endliche, nur Akzidentelle, Vergängliche, Außer- und Unwesentliche usf. ebenso abstrakt zusammengefaßt werden, wie in dem ganz formalen Denken gewöhnlich und zunächst geschieht. Aber es drängt sich zu sehr der Zusammenhang dieses Zweiten mit dem Ersten auf, um es nicht zugleich in einer Einheit mit demselben zu fassen, wie das Attribut bei Spinoza die ganze Substanz ist, aber von dem Verstand, selbst einer Beschränkung oder Modus, gefaßt; der Modus aber, das Nichtsubstantielle überhaupt, das nur aus einem Anderen gefaßt werden kann, macht so das andere Extrem zu der Substanz, das Dritte überhaupt aus. Der indische Pantheismus hat in seiner ungeheuren Phantasterei gleichfalls, abstrakt genommen, diese Ausbildung erhalten, die sich durch ihr Maßloses hindurch als ein mäßigender Faden zu einigem Interesse zieht, daß Brahman, das Eine des abstrakten Denkens, durch die Gestaltung in Wischnu, besonders in der Form Krischnas, zu dem Dritten, Schiwa,[388] fortgeht. Die Bestimmung dieses Dritten ist der Modus, Veränderung, Entstehen und Vergehen, das Feld der Äußerlichkeit überhaupt. Wenn diese indische Dreiheit zu einer Vergleichung mit der christlichen verleitet hat, so ist in ihnen zwar ein gemeinsames Element der Begriffsbestimmung zu erkennen, aber über den Unterschied ist wesentlich ein bestimmteres Bewußtsein zu fassen; derselbe ist nicht nur unendlich, sondern die wahrhafte Unendlichkeit macht den Unterschied selbst aus. Jenes dritte Prinzip ist seiner Bestimmung nach das Auseinanderfahren der substantiellen Einheit in ihr Gegenteil, nicht die Rückkehr derselben zu sich, – das Geistlose vielmehr, nicht der Geist. In der wahrhaften Dreiheit ist nicht nur Einheit, sondern Einigkeit, der Schluß zur inhaltsvollen und wirklichen Einheit, die in ihrer ganz konkreten Bestimmung der Geist ist, gebracht. Jenes Prinzip des Modus und der Veränderung schließt wohl die Einheit nicht überhaupt aus; wie nämlich im Spinozismus eben der Modus als solcher das Unwahre und nur die Substanz das Wahrhafte ist, alles auf diese zurückgeführt werden soll, welches dann ein Vesenken alles Inhalts in die Leerheit, in nur formelle, inhaltslose Einheit ist, so ist auch Schiwa wieder das große Ganze, von Brahman nicht Unterschiedene, Brahman selbst; d.h. der Unterschied und die Bestimmtheit verschwindet nur wieder, aber wird nicht aufbewahrt, nicht aufgehoben, und die Einheit wird nicht zur konkreten Einheit, die Entzweiung nicht zur Versöhnung zurückgeführt. Das höchste Ziel für den in die Sphäre des Entstehens und Vergehens, der Modalität überhaupt versetzten Menschen ist die Versenkung in die Bewußtlosigkeit, die Einheit mit Brahman, die Vernichtung; dasselbe ist das buddhistische Nirwana, Nieban usf.

Wenn nun der Modus überhaupt die abstrakte Äußerlichkeit, die Gleichgültigkeit gegen die qualitativen wie gegen die quantitativen Bestimmungen ist und es im Wesen auf das Äußerliche, Unwesentliche nicht ankommen soll, so wird auch wieder in vielem zugestanden, daß alles auf die Art[389] und Weise ankomme; der Modus wird damit selbst für wesentlich zum Substantiellen einer Sache gehörig erklärt; in welcher sehr unbestimmten Beziehung wenigstens dies liegt, daß dies Äußerliche nicht so abstrakt das Äußerliche sei.

Hier hat der Modus die bestimmte Bedeutung, das Maß zu sein. Der spinozistische Modus wie das indische Prinzip der Veränderung ist das Maßlose. Das griechische, selbst noch unbestimmte Bewußtsein, daß alles ein Maß hat, so daß selbst Parmenides nach dem abstrakten Sein die Notwendigkeit als die alte Grenze, die allem gesetzt ist, eingeführt [hat], ist der Anfang eines viel höheren Begriffs, als die Substanz und der Unterschied des Modus von derselben enthält.

Das entwickeltere, reflektiertere Maß ist die Notwendigkeit; das Schicksal, die Nemesis, schränkt sich im allgemeinen auf die Bestimmtheit des Maßes ein, daß, was sich vermesse, zu groß, zu hoch mache, auf das andere Extrem der Herabsetzung zur Nichtigkeit reduziert und damit die Mitte des Maßes, die Mittelmäßigkeit, hergestellt werde. – »Das Absolute, Gott, ist das Maß aller Dinge« ist nicht stärker pantheistisch als die Definition »das Absolute, Gott, ist das Sein«, aber unendlich wahrhafter. – Das Maß ist zwar äußerliche Art und Weise, ein Mehr oder Weniger, welches aber zugleich ebenso in sich reflektiert, nicht bloß gleichgültige und äußerliche, sondern an sich seiende Bestimmtheit ist; es ist so die konkrete Wahrheit des Seins; in dem Maße haben darum die Völker etwas Unantastbares, Heiliges verehrt.

Es liegt in dem Maße bereits die Idee des Wesens, nämlich in der Unmittelbarkeit des Bestimmtseins identisch mit sich zu sein, so daß jene Unmittelbarkeit durch diese Identität-mit-sich zu einem Vermittelten herabgesetzt ist, wie diese ebenso nur durch diese Äußerlichkeit vermittelt, aber die Vermittlung mit sich ist, – die Reflexion, deren Bestimmungen sind, aber in diesem Sein schlechthin nur als Momente ihrer negativen Einheit. Im Maße ist das Qualitative quantitativ; die Bestimmtheit oder der Unterschied ist als gleichgültig, damit[390] ist es ein Unterschied, der keiner ist, er ist aufgehoben; diese Quantitativität macht als Rückkehr in sich, worin sie als das Qualitative ist, das Anundfürsichsein aus, welches das Wesen ist. Aber das Maß ist erst an sich oder im Begriffe das Wesen; dieser Begriff des Maßes ist noch nicht gesetzt. Das Maß noch als solches ist selbst die seiende Einheit des Qualitativen und Quantitativen; seine Momente sind als ein Dasein, eine Qualität und Quanta derselben, die nur erst an sich untrennbar [sind], aber noch nicht die Bedeutung dieser reflektierten Bestimmung haben. Die Entwicklung des Maßes enthält die Unterscheidung dieser Momente, aber zugleich die Beziehung derselben, so daß die Identität, welche sie an sich sind, als ihre Beziehung aufeinander wird, d. i. gesetzt wird. Die Bedeutung dieser Entwicklung ist die Realisation des Maßes, in der es sich zu sich selbst ins Verhältnis und damit zugleich als Moment setzt; durch diese Vermittlung wird es als Aufgehobenes bestimmt; seine Unmittelbarkeit wie die seiner Momente verschwindet, sie sind als reflektierte; so als das hervorgetreten, was es seinem Begriffe nach ist, ist es in das Wesen übergegangen.

Das Maß ist zunächst unmittelbare Einheit des Qualitativen und Quantitativen, so daß

erstens ein Quantum ist, das qualitative Bedeutung hat und als Maß ist. Dessen Fortbestimmung ist, daß an ihm, dem an sich Bestimmten, der Unterschied seiner Momente, des qualitativen und quantitativen Bestimmtseins, hervortritt. Diese Momente bestimmen sich weiter selbst zu Ganzen des Maßes, welche insofern als Selbständige sind; indem sie sich wesentlich aufeinander beziehen, wird das Maß

zweitens Verhältnis von spezifischen Quantis als selbstständigen Maßen. Ihre Selbständigkeit beruht aber wesentlich zugleich auf dem quantitativen Verhältnisse und dem Größenunterschiede; so wird ihre Selbständigkeit ein Übergehen ineinander. Das Maß geht damit im Maßlosen zugrunde. – Dies Jenseits des Maßes ist aber die Negativität desselben nur an sich selbst; es ist dadurch

[391] drittens die Indifferenz der Maßbestimmungen und als reell mit der in ihr enthaltenen Negativität das Maß gesetzt als umgekehrtes Verhältnis von Maßen, welche als selbständige Qualitäten wesentlich nur auf ihrer Quantität und auf ihrer negativen Beziehung aufeinanderberuhen und damit sich erweisen, nur Momente ihrer wahrhaft selbständigen Einheit zu sein, welche ihre Reflexion-in-sich und das Setzen derselben, das Wesen, ist.

Die Entwicklung des Maßes, die im folgenden versucht worden, ist eine der schwierigsten Materien; indem sie von dem unmittelbaren, äußerlichen Maße anfängt, hätte sie einerseits zu der abstrakten Fortbe stimmung des Quantitativen (einer Mathematik der Natur) fortzugehen, andererseits den Zusammenhang dieser Maßbestimmung mit den Qualitäten der natürlichen Dinge anzuzeigen, wenigstens im allgemeinen; denn die bestimmte Nachweisung des aus dem Begriffe des konkreten Gegenstandes hervorgehenden Zusammenhangs des Qualitativen und Quantitativen gehört in die besondere Wissenschaft des Konkreten, – wovon Beispiele in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3. Aufl., § 267 u. 270 Anm., das Gesetz des Falles und das der freien himmlischen Bewegung betreffend nachzusehen sind. Es mag hierbei dies überhaupt bemerkt werden, daß die verschiedenen Formen, in welchen sich das Maß realisiert, auch verschiedenen Sphären der natürlichen Realität angehören. Die vollständige, abstrakte Gleichgültigkeit des entwickelten Maßes, d. i. der Gesetze desselben, kann nur in der Sphäre des Mechanismus statthaben, als in welchem das konkrete Körperliche nur die selbst abstrakte Materie ist; die qualitativen Unterschiede derselben haben wesentlich das Quantitative zu ihrer Bestimmtheit; Raum und Zeit sind die reinen Äußerlichkeiten selbst, und die Menge der Materien, Massen, Intensität des Gewichts sind ebenso äußerliche Bestimmungen, die an dem Quantitativen ihre eigentümliche Bestimmtheit haben. Dagegen wird solche Größenbestimmtheit des abstrakt Materiellen schon durch die Mehrheit und[392] damit einen Konflikt von Qualitäten im Physikalischen, noch mehr aber im Organischen gestört. Aber es tritt hier nicht bloß der Konflikt von Qualitäten als solchen ein, sondern das Maß wird hier höheren Verhältnissen untergeordnet und die immanente Entwicklung des Maßes vielmehr auf die einfache Form des unmittelbaren Maßes reduziert. Die Glieder des animalischen Organismus haben ein Maß, welches als ein einfaches Quantum im Verhältnis zu anderen Quantis der anderen Glieder steht; die Proportionen des menschlichen Körpers sind die festen Verhältnisse von solchen Quantis; die Naturwissenschaft hat noch weithin, von dem Zusammenhange solcher Größen mit den organischen Funktionen, von denen sie ganz abhängig sind, etwas einzusehen. Aber von der Herabsetzung eines immanenten Maßes zu einer bloß äußerlich determinierten Größe ist die Bewegung das nächste Beispiel. An den Himmelskörpern ist sie die freie, nur durch den Begriff bestimmte Bewegung, deren Größen hiermit ebenso nur von demselben abhängen (s. oben), aber von dem Organischen wird sie zur willkürlichen oder mechanisch-regelmäßigen, d.h. überhaupt abstrakten formellen Bewegung heruntergesetzt.

Noch weniger aber findet im Reich des Geistes eine eigentümliche, freie Entwicklung des Maßes statt. Man sieht z.B. wohl ein, daß eine republikanische Verfassung wie die atheniensische oder eine durch Demokratie versetzte aristokratische nur bei einer gewissen Größe des Staates Platz haben kann, daß in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft die Mengen von Individuen, welche den verschiedenen Gewerben angehören, in einem Verhältnisse miteinander stehen; aber dies gibt weder Gesetze von Maßen noch eigentümliche Formen desselben. Im Geistigen als solchen kommen Unterschiede von Intensität des Charakters, Stärke der Einbildungskraft, der Empfindungen, der Vorstellungen usf. vor; aber über dies Unbestimmte der Stärke oder Schwäche geht die Bestimmung nicht hinaus. Wie matt und völlig leer die sogenannten Gesetze ausfallen, die über das Verhältnis[393] von Stärke und Schwäche der Empfindungen, Vorstellungen usf. aufgestellt werden, wird man inne, wenn man die Psychologien nachsieht, welche sich mit dergleichen bemühen.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 5, Frankfurt a. M. 1979, S. 387-394.
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