Feyerlich

[383] Feyerlich. (Schöne Künste)

Man nennt dasjenige Feyerlich, was die Empfindung eines hohen Grades der Ehrfurcht und einer bewundernden Erwartung erwekt. Es ist ein feyerlicher Anblik, eine große Menge zum Gottesdienst versammelter Menschen stillschweigend, und in der größten Andacht auf ihren Knien liegen zu sehen. In den schönen Künsten ist das Feyerliche eines von den kräftigsten Mitteln die Gemüther mit Ehrfurcht zu rühren, die Erwartung zu erweken, und den Vorstellungen den höchsten Nachdruk zu geben.

Es ist aber seiner Natur nach nur in erhabenen Gegenständen zu suchen, weil nur diese Ehrfurcht und Bewundrung erweken; in Handlungen, wo die Gottheit sich in ihrer vollen Majestät zeiget; auch in solchen Handlungen, wo das gänzliche Schicksal vieler Menschen durch einen glüklichen oder unglüklichen Augenblik zu entscheiden ist; in Hymnen, in geistlichen Oden und festlichen Liedern.

Das Feyerliche liegt entweder in den Vorstellungen selbst, oder in dem Ton, darin sie vorgetragen werden. Im erstern Fall ist es eine besondere Gattung des Erhabenen, das allemal aus Vorstellungen entsteht, die uns mit großer Ehrfurcht erfüllen, oder in höchst wichtige Erwartungen setzen. Dieses Feyerliche hängt von dem Genie und einer großen Denkungsart des Künstlers ab. Der feyerliche Ton aber ist die Würkung, der mit einem feinen Geschmak verbundenen Begeisterung. Niemand hat jemals diesen Ton so völlig und so mannigfaltig getroffen, als Klopstok, der darin allein zum Muster dienen kann. Es würde sehr vergeblich seyn, alle die kleinen Hülfsmittel des Ausdruks und des Sylbenmaaßes, woraus der feyerliche Ton entsteht, aus einander setzen zu wollen; dieses läßt sich besser empfinden, als beschreiben. Wir setzen nur ein einziges Beyspiel her, das schon Hr. Schlegel, als ein Muster des feyerlichen Tones angepriesen hat1.


Der Erdkreis ist des Herrn, und sein sind seine Heere,

Der Erdkreis und wer ihn bewohnt, ist sein.

Der Grund, auf den er ihn baut, sind ausgebreitete Meere,

Und Fluten umufern und schließen ihn ein –!2


Der feyerliche Ton hat eine sehr große Kraft, wenn der Gegenstand selbst groß und erhaben ist; aber weh dem Dichter oder Redner, der diesen Ton bey geringen Gegenständen annihmt; denn da fällt er ins Poßirliche. Es gehört ein feiner Geschmak dazu, den gemäßigten, den hohen und den feyerlichen Ton, jeden bey dem Gegenstand, dem er eigen ist, anzuwenden.

1In seinem übersetzten Batteux II Th. S. 462 nach der zweyten Ausgabe.
2Cramer in der Uebersetzung des 24 Ps. Hat nicht Hr. Schlegel, um dieses im Vorbeygehen zu erinnern, sich mit der Critik des Worts umufern, etwas übereilt? Freylich wird das Meer vom Land umufert; hat aber nicht der Dichter die ganze Vorstellung dadurch wunderbarer gemacht, daß er den Erdkreis, als das Feste, von dem Flüssigen umufern läßt?
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 383.
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