Im Ganzen

[420] Im Ganzen. (Schöne Künste)

Einen Gegenstand im Ganzen betrachten heißt so viel, als auf die Würkung Achtung geben, den alle Theile zugleich, in so fern sie nur Eines ausmachen, auf uns thun. Man betrachtet ein Gebäude im Ganzen, indem man auf seine Form und Größe und auf seinen Charakter Achtung giebt, ohne auf irgend einen besondern Theil desselben Acht zu haben. Ein Gemähld wird im Ganzen betrachtet, wenn die Aufmerksamkeit überhaupt auf die Empfindung gerichtet wird, die von der Vereinigung aller Gegenstände herkömmt, es sey in Absicht auf den Geist desselben, oder blos in Absicht auf die Harmonie der Farben, oder der Haltung, oder des Hellen und Dunkeln. Es geht auch so gar in solchen Werken, die man nicht auf einmal, sondern nach und nach empfindet, wie die Werke redender Künste, doch an, sie im Ganzen zu betrachten. Solche Werke müssen, wenn sie vollkommen sind, gleich im Anfang ihren Charakter empfinden machen. Wenn man nun währendem Vortrag jedes Einzele in Rüksicht auf das Ganze, von dem man gleich anfangs sich einen Begriff gemacht hat, beurtheilet, so sieht man immer auf das Ganze. So wie z. B. ein Tonstük, es sey Symphonie, Concert oder Arie, anfängt, so muß gleich alles dahin abzielen, den Charakter des ganzen Stüks zu bestimmen, und so sollte es auch in jeder Rede seyn. Wenn man nun im Verfolg jedes Einzele nicht für sich, und nicht von dem Ganzen [420] abgelöset, sondern blos in Rüksicht auf das, was schon vom Ganzen bestimmt ist, beurtheilet, so betrachtet man das Werk im Ganzen.

Es ist eine wichtige Anmerkung, daß gewisse Werke der Kunst die Würkung des Ganzen zur Absicht haben, so daß die Theile blos des Ganzen halber da sind; da andre Werke einzele Theile zur Hauptabsicht haben. So wie es in der Mahlerey Landschaften giebt, in welchen kein einziger besonderer Gegenstand vorkömmt, der eine große Aufmerksamkeit verdiente, alle zusammen aber eine reizende Aussicht machen, so ist es auch mit andern Werken der Kunst. Hingegen giebt es auch Werke, worin das Einzele die Hauptsach ist. Man hat Comödien, die im Ganzen betrachtet, wenig Aufmerksamkeit verdienen, aber der einzeln Charaktere halber sehr wichtig sind. In jedem Gebäude muß die Aussenseite im Ganzen betrachtet werden; kein einziger Theil derselben ist für sich da, sondern blos, um die Würkung des Ganzen erreichen zu helfen: in dem innern der Gebäude aber, und so auch in den Gärten, ist bald jeder Theil seiner selbst wegen da, und wenige zur Würkung des Ganzen. So muß die Odyssee mehr im Ganzen, und die Ilias mehr in einzeln Theilen betrachtet und beurtheilet werden.

Dieser Unterschied erfodert von Seite des Künstlers eine doppelte Behandlung, und von Seite des Kenners eine doppelte Beurtheilung der Werke. In denjenigen, bey denen die Hauptabsicht durch das Ganze soll erreicht werden, muß jeder besondere Theil schlechterdings nur in der Form, Größe oder Kraft erscheinen, die zum Ganzen am schiklichsten ist; da hingegen in den andern die größte Sorgfalt auf einzele Theile gerichtet werden muß, das Ganze aber hinlänglich besorget ist, wenn es Einförmigkeit hat, und ein mechanisches Ganzes ausmacht.1

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 420-421.
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